Jeder Dritte gegen Einschnitte
Vorbehalte laut Umfrage auch gegen Corona-Impfung
GÜTERSLOH/BERLIN (dpa/clak) Gegen die Einschränkung von Freiheitsrechten in der Pandemie und gegenüber einer Corona-Impfung gibt es einer Umfrage zufolge deutliche Vorbehalte. 34 Prozent der Bürger in Deutschland wollen sich nicht impfen lassen. Ebenfalls ein Drittel (33 Prozent) lehnt Eingriffe in die Freiheitsrechte zur Pandemiebekämpfung „eher“oder „voll und ganz“ab, wie aus der am Mittwoch veröffentlichten Befragung im Auftrag
der Gütersloher Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Für die repräsentative Erhebung hat das Norstat Institut im November 2020 mehr als 1000 Erwachsene befragt. Die ablehnende Haltung falle unter besonders leistungs- und erfolgsorientierten Menschen überdurchschnittlich hoch aus.
Zudem zweifeln Verfassungsrechtler die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen und das Regieren mittels Verordnungen an.
- Die Lage ist verzwickt: Nach Monaten des Lockdowns sind viele Menschen Corona-müde. Gleichzeitig wächst die Sorge, dass noch ansteckendere Virus-Mutationen die Inzidenzwerte wieder steigen lassen. Doch auch den Rechtsstaat stellt das Coronavirus auf die Probe. Andrea Edenharter, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Fernuniversität Hagen, und Josef Franz Lindner, Professor für öffentliches Recht an der Universität Augsburg, erklären, warum.
Seit Beginn der Corona-Pandemie entscheiden Kanzlerin Angela Merkel und die 16 Länderchefs über Beschränkungen im öffentlichen Leben. Die Parlamente sind weitgehend außen vor. Ist dies verfassungsrechtlich vertretbar – und wie lange noch?
Das Regieren über Verordnungen müsste sofort ein Ende haben, fordert Professorin Edenharter. Das normale Gesetzgebungsverfahren, das vorsieht, über Gesetze im Parlament zu beraten, werde dadurch auf den Kopf gestellt. Zudem gebe es im Grundgesetz keine rechtliche Grundlage für dieses Gremium. Um die Politik von Bund und Ländern aufeinander abzustimmen, seien die Merkel-Ministerpräsidenten-Treffen zwar sinnvoll, sagt Professor Lindner. „Allerdings stellt sich die Frage, ob die Exekutive den Bogen nicht überspannt hat, indem sie sich von einem Lockdown zum anderen hangelt, ohne dass die Parlamente eingebunden werden.“Der Bundestag habe es sich aber auch selbst zuzuschreiben, dass er in der Pandemie wenig Gehör fin- det, sagt Lindner. „Die Abgeordneten hätten von sich aus das Infektionsschutzgesetz so ändern können, dass wieder eine parlamentarische Kontrolle möglich ist.“Dafür fehle allerdings eine Mehrheit im Parlament.
Wie lange kann eine Maskenpflicht verordnet werden, wenn immer mehr Menschen geimpft
oder nach überstandener CoronaErkrankung immun sind?
„Die Maskenpflicht wird so ziemlich die letzte Maßnahme sein, die wegfallen wird“, sagt Lindner. Die Vorschrift, Maske zu tragen, sei im Vergleich zu Kontaktverboten, Geschäftsund Schulschließungen ein geringer Eingriff in die Grundrechte. „Deshalb ist eine Maskenpflicht verhältnismäßig und nicht zu beanstanden, wenn sie gleichzeitig dazu dient, das öffentliche Leben am Laufen zu halten“, betont auch Edenharter. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sei beispielsweise das Recht auf eine adäquate Schuldbildung mittels Präsenzunterricht sehr viel höher zu bewerten als die Freiheit, keine Maske zu tragen. Auch bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 35 könne es deshalb weiterhin eine Maskenpflicht geben.
Wie lange kann Geimpften vorgeschrieben werden, sich an die Corona-Beschränkungen zu halten?
Wenn sich eine Studie aus Israel bestätigt, dass Geimpfte das Coronavirus nicht weitergeben, könne ihnen nicht länger vorgeschrieben werden, auf ihre Grundrechte zu verzichten, sagt Edenharter. „Grundrechte sind keine Privilegien, wie es immer wieder fälschlicherweise heißt, die hat jeder.“Es brauche deshalb eine Rechtfertigung, um sie einzuschränken, und nicht umgekehrt. Edenharter kritisiert zudem, dass die Impfreihenfolge in Deutschland via Verordnung und nicht in einem Gesetz festgelegt wurde. „Das ist verfassungswidrig. Bei älteren Menschen geht es unter Umständen um Leben und Tod. Das kann ein Bundesminister nicht einfach per Verordnung regeln.“Verfassungswidrig wäre es außerdem aus Sicht von Lindner, wenn die Regierung den Lockdown so lange fortsetzen würde, bis die Herdenimmunität erreicht ist, um schlicht nicht zwischen Geimpften und NichtGeimpften unterscheiden zu müssen. „Dann würden diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht impfen lassen wollen, die gesamte Gesellschaft dauerhaft in Geiselhaft nehmen. Das ist in einem Rechtsstaat nicht zulässig.“
Sind Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen rechtlich zulässige Mittel zur Bekämpfung der Corona-Pandemie?
Zwischen nächtlichen Ausgangssperren und Kontaktverboten sei klar zu differenzieren, fordert Edenharter: „Den Staat hat es nicht zu interessieren, wann jemand draußen spazieren geht. Es geht ihn aber im Sinne des Infektionsschutzes durchaus etwas an, mit wie vielen Personen sich jemand dabei trifft.“Da es für die Virusübertragung allein auf den Kontakt zu anderen Personen ankomme, seien Ausganssperren per se ungeeignet und damit unverhältnismäßig, um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Etwas anderes gelte für Kontaktbeschränkungen. Da Kontakte wissenschaftlich belegt Nährboden für das Virus seien, geht Lindner davon aus, dass die Beschränkungen nur allmählich gelockert werden müssen. Ihn stört, dass die Politik alle Kontakte und nicht nur „riskante Kontakte“verboten habe. Das sei aus rechtlicher Sicht der falsche Ansatz, kritisiert Lindner. „Deswegen wurde nicht auf Tests und FFP2Masken gesetzt, um beispielsweise einen Kinobesuch zu erlauben, sondern das Kino wurde von vornherein dichtgemacht.“Dabei habe der Gesetzgeber die Pflicht, möglichst grundrechtsschonend vorzugehen.
Wie lange noch können Schließungen verordnet werden?
Das hängt von der Entwicklung der Sieben-Tage-Inzidenz ab. „Das Infektionsschutzgesetz schreibt vor, dass es bei einer Inzidenz von 50 erste Lockerungen und bei einer Inzidenz von 35 weitere Öffnungen geben muss“, sagt Lindner. Die Politik sei verpflichtet, eine Öffnungsstrategie zu erarbeiten, da Lockerungen von Rechts wegen notwendig seien. „Das Infektionsschutzrecht ist ein Gefahrenabwehrrecht und keine Vorsorgemaßnahme für etwaige Risiken“, betont auch Edenharter. „In der Praxis heißt das: Nur weil man jetzt Mutationen des Coronavirus erwartet, kann die Politik nicht auf Monate hinweg das öffentliche Leben lahmlegen.“Selbst wenn einzelne Lockerungen im Handel, der Gastronomie,
von Sportstätten und Kultureinrichtungen zu steigenden Infektionszahlen führten und wieder zurückgenommen werden müssten, sei dies aus juristischer Sicht der richtige Weg. „Das Recht verlangt, Grundrechtseingriffe immer dann, wenn es vertretbar ist, aufzuheben“, erklärt Lindner: „Ich bin überrascht, wie wenig sich die Politik traut.“
In Supermärkten und Drogerien werden Spielwaren, Schuhe und Kleidung verkauft. Die jeweiligen Fachgeschäfte müssen hingegen geschlossen sein. Wie ist dies aus juristischer Sicht zu bewerten?
Auch in diesem Punkt sind sich die beiden Juristen einig: Mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz sei es nicht zu vereinbaren, „dass beispielsweise Schuhund Lederwarenläden schließen mussten und von Supermärkten Schuhe und Koffer angeboten werden“. Wenn der Gesetzgeber so vorgehe, hätte er entsprechende Untersuchungen in Auftrag geben müssen, aus denen hervorgeht, dass die Infektionsgefahr im Einzelhandel größer ist als beispielsweise im Discounter. Falls dies nicht der Fall sein sollte, müssten Öffnungen im Einzelhandel mit entsprechendem Hygienekonzept erlaubt werden. „Das hat nichts mit politischer Gnade zu tun, das ist eine verfassungsrechtliche Pflicht“, sagt Lindner.
Warum wird nicht mehr geklagt gegen die Corona-Verordnungen?
Es habe durchaus Klagen gegen die Corona-Beschränkungen gegeben, vieles sei aber von den Gerichten abgewiesen worden, sagen Edenharter und Lindner. „Die Gerichte zeigen aktuell keine Bereitschaft, die Grundphilosophie der Exekutive infrage zu stellen“, meint Lindner. Eine Ausnahme sei der Verwaltungsgerichtshof Mannheim, der unter anderem die nächtliche Ausgangssperre in Baden-Württemberg gekippt hat. Die Aussicht, dass von 100 Klagen 94 Prozent erfolglos blieben, zermürbe Anwälte und auch etwaige Kläger.