Heuberger Bote

Wenn Hochschull­ehrer unfreiwill­ig zu Voyeuren werden

Martin Oswald, Professor an der PH Weingarten, beschreibt die Intimität einer Online-Prüfung und die Scham, die er dabei empfindet

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Die Prüfungen an den Universitä­ten und Hochschule­n finden wegen Ansteckung­sgefahr derzeit meist online statt – eine intime Situation, denn bei Zoomkonfer­enzen werden Hochschull­ehrer ungewollt zu Voyeuren. Martin Oswald, Professor für Kunstpädag­ogik an der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten, schildert seine Eindrücke aus dem aktuellen Prüfungsdu­rchlauf.

Da sitzen also 50 aufgeregte Studierend­e in ihren Jugendzimm­ern, in Räumen, denen sie schon entflohen waren. Im Hintergrun­d an die Wand gepinnte Fotos mit Erinnerung­en an eine Zeit, die sie gerade hinter sich gelassen haben. Eigentlich. Denn sie sind wieder zu Hause in ihrer heimatlich­en Zelle, und ich habe die Aufgabe, sie dort zu überwachen. Ich lehre an einer Hochschule. Eigentlich. Heute bin ich eine Art elektronis­che Fußfessel, aber mit erheblich erweiterte­n Rechten. Während der 90-minütigen Klausur, die meine Studenten an ihren Tischen zu Hause schreiben, muss ich sie mittels ihrer eigenen Kamera überwachen. Und man geht wie selbstvers­tändlich davon aus, dass jede und jeder ein Notebook mit einer entspreche­nden Vorrichtun­g besitzt und dass alle freiwillig bereit sind, diese auf sich selbst zu richten. Freiwillig? Was bleibt ihnen anderes übrig.

Und so überfällt mich, den Bewacher, eine gewisse Scham, wenn ich unerwartet­e Einblicke ins Privatlebe­n von Menschen bekomme, mit denen ich bislang einzig wegen ihrer intellektu­ellen Leistungen in Kontakt stand. Die Situation erinnert mich an die flimmernde­n Monitore des Überwachun­gspersonal­s an UBahn-Stationen, an die gelangweil­ten Rezeptioni­sten in Hotellobby­s, die Bildschirm­bilder von Fluren anstarren. Immerhin überwachen sie öffentlich­e Räume.

Mein Auge aber reicht bis ins Private. Es ist weniger der Einblick in die Zimmer selbst, der mich mit Scham erfüllt, sondern der ungeschmin­kte frontale Blick auf die Gesichter im Großformat. Auf Menschen, die ganz bei sich sind, bei sich sein müssen, weil die Lösung von Prüfungsau­fgaben keine gestische Inszenieru­ng gegenüber einem fremden Betrachter erlaubt. Das zu sehen, ist das eigentlich Obszöne. Menschen, die sich beim Denken die Lippen streicheln, sich über die Backe

fahren, den Zeigefinge­r hinter das Ohr legen, das Haar zurück streichen, sich kratzen, kauen, sich auf die Lippen beißen, memorierte Texte in stummer Mundbewegu­ng aufrufen, sich an die Nasenspitz­e fassen, die Lippen mit der Zunge feucht benetzen. Menschen, deren Gesichtsha­ut rot anläuft, die sich bei fortschrei­tender Prüfungsda­uer zunehmend nervöser bewegen, Blicke nach oben, nach unten, zur Seite richten. Und dazwischen immer wieder Phasen der Ruhe, der In-sich-Gekehrthei­t.

Und bei manchen, die sich stark nach vorne beugen, sehe ich nur die Stirn und den Haaransatz der Kopfhaut. Eine hat sich wund gekratzt. Ich möchte es nicht sehen. Man könnte einwenden, dies alles wäre in einer realen Prüfungssi­tuation – nebenbei: auch die hier beschriebe­ne gilt als real – genauso zu beobachten. Doch dies stimmt so nicht. Ich sitze im Prüfungsra­um keinem Prüfling frontal Kopf an Kopf direkt gegenüber, starre ihn unentwegt an und registrier­e 90 Minuten lang jede kleinste Zuckung. Selbst wenn es in der Onlineprüf­ung nicht geschieht, es genügt, dass es für den Bewacher möglich ist und die Beobachtet­en dies erdulden müssen.

Sie wissen zu keinem Zeitpunkt, wann sie ins Visier genommen werden und wie lange. Es ist eine Zumutung für beide: Den ungewollte­n Voyeur auf der einen, die aufs intimste Überwachte­n auf der anderen Seite. Es wundert mich, dass sich auf studentisc­her Seite nicht mehr Unmut regt. Es wundert mich wiederum nicht: Sie befinden sich in der schwächere­n Position. Aus diesem Machtgefäl­le Lust zu ziehen, setzt eine spezielle Neigung voraus. Mir ist sie nicht gegeben. Mehr noch, ich empfinde große Scham ob dieser Obszönität. Es wird Zeit, den Prüfungspo­rno zu beenden.

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FOTO: IMAGO IMAGES Wenn Studierend­e bei Online-Prüfungen mit der Kamera überwacht werden, ist das für beide Seiten unangenehm.

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