Wenn der Postmann dauernd klingelt
Seit Ausbruch der Pandemie herrscht bei Paketdiensten so eine Art ewiger Advent – Und für nicht wenige Menschen im Lockdown sind Boten die einzige Abwechslung – Aber wie geht es diesen eigentlich dabei?
„Es gibt diese Pakete mit zwölf Flaschen Wein. Wenn Sie da ein paar davon im Wagen haben, wissen Sie am Abend, was Sie geschafft haben.“
Mitarbeiterin eines Paketunternehmens
RAVENSBURG - Die Zimmertüre knallt dermaßen zu, dass für kurze Zeit die Blumen in der Vase mit den Köpfen nicken. Dann geht sie wieder auf – und für einen kleinen Moment steckt ein 10-jähriges Mädchen den roten Kopf heraus und keift: „Du bist blö-öd!“Gemeint ist ihre zwölfjährige Schwester, die mit verschränkten Armen dasteht und gelangweilt mit den Augen rollt, als hätte sie das Augenrollen höchstpersönlich erfunden. Es ist Vormittag, die erste Eskalation des Tages während eines ganz normalen Homeschooling-Mittwochs. Warum wer wann und auf wen sauer ist innerhalb einer vierköpfigen Familie, die sich zähneknirschend, aber möglichst geschmeidig im Rhythmus des politischen Eiertanzes zwischen Verschärfen und Lockern bewegt, wechselt bisweilen viertelstündlich. Nur einer ist und war und bleibt immer gut und willkommen während dieser Seuchenzeit: der Paketbote. Das stille fünfte Familienmitglied in wechselnder Besetzung.
Ob gelb gekleidet, rot-weiß gewandet, schokoladenbraun oder blau-weiß uniformiert – die Fahrer bringen Abwechslung in den Alltag des Lockdowns, sozusagen päckchenweise. Sogar dann, wenn die Lieferung gar nicht für einen selbst, sondern lediglich für den Nachbarn ist. Der Branchenverband E-Commerce (bevh) hat für das abgelaufene Jahr einen beispiellosen Boom im Onlinehandel verzeichnet. Das Geschäft wuchs um 14,6 Prozent auf mehr als 83 Milliarden Euro Umsatz. Einzelne Märkte wie der Medikamentenhandel übers Internet sind sogar um mehr als die Hälfte in die Höhe geschossen. Zu den Gewinnern zählen neben dem Giganten Amazon auch Anbieter wie Otto oder der Modehändler Zalando.
Jedes Stück – sei es nun klein wie eine Schachtel Aspirin oder groß wie ein Schlafzimmerschrank – will transportiert werden, bevor es Kunden mit strahlenden Augen in Empfang nehmen. Und sehr oft gleich wieder zurückschicken. Der bevh schätzt, dass die Zahl der Retourenpakete in Deutschland im Jahr 2020 die Marke von 300 Millionen Stück geknackt hat. Bei den Sendungen insgesamt jagt eine Bestmarke die nächste: Die Deutsche Post hat bereits im November 2020 den bisherigen Rekord von 1,6 Milliarden ausgelieferter Sendungen eingestellt. Endgültige Zahlen für die gesamte Branche liegen für 2020 noch nicht vor – aber allein im coronafreien Jahr 2019 waren laut des Bundesverbands Paket und Expresslogistik (BIEK) 3,65 Milliarden Sendungen in Deutschland unterwegs. Treffen die aktuellen Prognosen ein, so wird diese Bestmarke im Jahr 2020 um rund eine halbe Milliarde übertroffen – im Jahr 2021 womöglich noch einmal.
Das liest sich in Statistiken erstaunlich, aber doch nüchtern und trocken. Was das bedeutet, kann der Empfänger in regelmäßigen Abständen an der eigenen Haustür im Gesicht der Menschen ablesen, die diese Paket-Sintflut in Bewegung halten. Nicht bei jedem, aber gerade denen, die spät am Nachtmittag oder frühen Abend noch unterwegs sind. In Fahrzeugen, die meistens neutral weiß gehalten sind. Und wo erst während der Übergabe klar wird, welcher Paketdienst dahintersteht. Menschen, die abgekämpft aussehen und kaum ein Wort Deutsch sprechen. Selbst Nachfragen in Englisch werden nur mit hilflosem Schulterzucken beantwortet. Und die Freude über das gelieferte Paket wird überschattet von unangenehmen Fragen, etwa: War dieser Bote gerade eines dieser ausgebeuteten osteuropäischen Opfer eines Subunternehmens, die mit ihrer Armut und Gesundheit persönlich dafür bezahlen, dass wir günstig und schnell Ware geliefert bekommen, die wir – Hand aufs Herz – in sehr vielen Fällen gar nicht brauchen und gerade deshalb so leichtfertig wieder zurückschicken?
Anfragen bei den größten Versanddienstleistern mit der Bitte, eine Fahrerin oder einen Fahrer eine Zeit lang auf ihrer Tour begleiten zu dürfen – aufgrund der Pandemie in einem separaten Auto – werden mit Verweis auf Corona grundsätzlich und prinzipiell abgelehnt. Auch ein Interview mit einem Paketboten ist nicht möglich. Der Logistik-Riese Hermes etwa antwortet auf die Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Wir begrüßen es, dass Sie ,echte Alltagshelden‘ zeigen wollen, müssen Ihnen nach interner Prüfung jedoch leider absagen. Aufgrund der aktuellen Pandemie ist ein Besuch in einem LogistikCenter sowie eine Begleitung derzeit einfach nicht möglich. Wir bitten um Ihr Verständnis.“Immerhin: Nach mehreren Vorabgesprächen mit der Pressestelle der Deutschen Post DHL Group arrangieren die Verantwortlichen ein Telefonat mit Annette Herzog, Niederlassungsleiterin der Deutschen Post Betrieb Ravensburg. Sie leitet die logistischen Prozesse der Region zwischen Bodensee und Heidenheim. Das dazugehörige Paketzentrum befindet sich in Günzburg. „Dort bearbeiten wir innerhalb von 24 Stunden bis zu 350 000 Pakete“, sagt Annette Herzog. Das Einzugsgebiet umfasst 860 000 Haushalte. In Weingarten gibt es darüber hinaus noch ein Briefzentrum, außerdem eines in Neu-Ulm. Diese Zentren verteilen täglich zwei Millionen Briefe. Herzog steht an der Spitze von 3800 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in dieser Region. „Sie stammen aus 57 Nationen.“Es sei eine interessante Aufgabe, all diese Nationalitäten und Mentalitäten mit einem guten Führungsteam unter einen Hut zu bringen.
Andreas Henze ist bei der Gewerkschaft Verdi Baden-Württembergs Landesfachbereichsleiter Paketdienste, Speditionen und Logistik. Und damit weiß er, welche Versanddienstleister besonders stark auf Subunternehmer setzen und welche nicht. „Da muss man DHL schon loben. Dort sind mehr als 90 Prozent der Fahrer fest angestellt.“Dementsprechend gut organisiert seien die Mitarbeiter, was sich positiv auf ihre Arbeitsbedingungen
sowie die Bezahlung auswirke. Bei 14,06 Euro Stundenlohn gehe es los – die Endstufe liege derzeit bei 18,10 Euro. UPS komme mit etwa 60 Prozent eigenen Fahrern direkt nach der Deutschen Post. „Die anderen haben fast nur Subunternehmer“, sagt Henze und nennt Hermes, GLS, Fedex und DPD beim Namen. Der Gewerkschaftsvertreter ist überzeugt, dass die Aufforstung des Personals – egal ob fest angestellt oder über Subunternehmer beschäftigt – mit der rasant gestiegenen Zahl der Sendungen nicht Schritt halten kann. „Da wird schon die eine oder andere Überstunde angesammelt, und die Laufzeiten verlängern sich“, sagt Henze.
Annette Herzog von Deutsche Post DHL sagt, dass sie die Steigerung im Paketversand vor Herausforderungen gestellt hätte – das Volumen habe ihre
Teams dennoch nicht erschlagen. „Zu Spitzenzeiten vor Weihnachten bearbeiten wir auch 520 000 Pakete täglich.“Im Vorjahr seien gegenüber 2019 außerdem 300 Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden. Und es werden laufend neue Leute gesucht – eine konkrete Zahl nennt DHL zwar nicht, die Anstrengungen, auf allen Kanälen nach neuen Mitarbeitern zu suchen, sind vor allem im Internet nicht zu übersehen. Dass nach dem Ende von Corona das Geschäft mit Paketen drastisch zurückgehen wird, glaubt Annette Herzog aber nicht: „Wir denken, dass die Entwicklung des zukünftigen Paketgeschäfts nachhaltig sein wird.“Viele Kunden, die vor der Pandemie nur selten oder nie online bestellt hätten, seien nun auf den Geschmack gekommen. „Es gibt viele Kunden, die sehr überrascht sind, wie schnell es zum Teil geht: Sonntagnachmittag zum Kaffee bestellt, am Montag schon geliefert.“Mit Blick auf den stationären Einzelhandel sagt Annette Herzog, dass es künftig mehr parallele Vertriebswege geben werde: der eine online, der andere ganz klassisch im Laden. Herzog betont übrigens, dass in ihrer Region überhaupt keine Subunternehmen an der Auslieferung bei Deutsche Post DHL beteiligt seinen. „Alle Mitarbeiter sind eigene Angestellte.“
Die Arbeitsbedingungen der Fahrer bei Subunternehmern, die fern der Heimat bei uns nicht selten jenseits von Arbeitsschutz oder geregelten Diensten schuften, ist in aller Regel schlechter. „Viele kommen aus Osteuropa, verstärkt aus Bulgarien und Rumänien, und verdienen höchstens Mindestlohn oder knapp darüber“, sagt Verdi-Mann Andreas Henze. Der Mindestlohn beträgt im Augenblick 9,50 Euro brutto. Aber müsste sich der enorme Bedarf an Arbeitskräften in der Paketlogistik nicht deutlich in steigenden Löhnen spiegeln? Andreas Henze: „Es gibt tatsächlich die Tendenz in der Branche, dass es nicht mehr ganz so einfach ist, Fahrer zu finden.“Es habe sich etwas getan im Paketgeschäft. Stichwort Nachunternehmerhaftung. Dabei haftet seit November 2019 der Paketdienstleister dafür – also zum Beispiel Hermes – dass die von ihm beauftragten Subunternehmer wiederum ihren Beschäftigten den Mindestlohn bezahlen und auch Sozialversicherungsbeiträge abführen. Dennoch gebe es noch viel zu tun, um auch nur annähernd die große Lücke zwischen Fahrern der Eigenzustellung wie etwa bei DHL und den Kollegen der Subunternehmer zu schließen.
Wie aber beurteilen die Menschen direkt an der Paketfront ihre Lage? Leute, die irgendwelche statistischen Zahlen nicht vom Schreibtisch aus ermitteln, sondern für die jedes einzelne Stück, das sie aus dem Wagen hieven und in die Arme eines Empfängers legen, ein kleiner Kraftakt ist. Ein Ziehen in der Schulter, ein Reißen im Rücken? Wer offen als Journalist auftritt und einfach fragt, bekommt keine zitierfähigen Antworten. Man solle in der Zentrale anrufen. Es sei nicht gestattet, Auskunft zu geben. Einen Kurier einfach auf der Straße anzusprechen und ihm als Mensch zu begegnen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, klappt nach einigen Anläufen endlich bei einem Herrn Mitte 40. Sein Fahrzeug zeigt keine offiziellen Logos. Der Beifahrersitz ist übersät mit den Resten von Verpackungen, in denen schnelles Essen verkauft wird. Leere Kaffeebecher. Woher er kommt? Mit Händen und Füßen erklärt der Fahrer mit schwarzem Vollbart, der an den Rändern grau ist: „Bulgaria“. Er stamme aus einem Dorf südlich der Hauptstadt Sofia. Dort beträgt der Mindestlohn im Augenblick 1,42 Euro. „Ich sage Deutschland Danke!“, betont der Bote. Sein Lächeln ist abgekämpft. Die Wintersonne ist gerade untergegangen, ein langer Tag geht zu Ende. Ob er hier den Mindestlohn bekomme? Da lacht er und erklärt, dass es darauf ankomme, wie lange er arbeite. Es genüge aber, um im Sommer Pause zu machen. Früher habe er in der Landwirtschaft gearbeitet. „Spargel, verstehst du?“Er zeigt auf seine Knie und auf den Rücken und sagt: „Jetzt besser.“
Eine junge Kollegin eines anderen Versanddienstleisters bekommt mehr Trinkgeld als noch vor der Pandemie, wie sie sagt. „Ich finde, wir werden jetzt stärker wahrgenommen. Weil wir jetzt halt auch wichtiger sind als früher.“Nur vor den ganz großen Dingern, da habe sie Respekt. Kürzlich habe sie ein großes Amazon-Paket vom Auto zu einer Haustür geschleppt. „Unhandlich und richtig schwer.“Der Empfänger habe gesagt: „Oh schön, da kommt ja mein Feuerholz!“Wein sei auch so eine Sache. „Es gibt diese Pakete mit zwölf Flaschen. Wenn Sie da ein paar davon im Wagen haben, wissen Sie am Abend, was sie geschafft haben.“Bis zur Rente könne man das eher nicht machen.
Irgendwann wird der Lockdown – light oder verschärft – ein Ende haben. Die Warenströme aus Paketen, da sind sich Logistikexperten einig, werden trotzdem mittelfristig nicht abebben, ja langfristig sogar noch weiter steigen. Damit werden die Menschen in Gelb, Rot-Weiß, Schokoladenbraun und Blau-Weiß weiterhin fast zur Familie gehören.