Heuberger Bote

Wenn der Postmann dauernd klingelt

Seit Ausbruch der Pandemie herrscht bei Paketdiens­ten so eine Art ewiger Advent – Und für nicht wenige Menschen im Lockdown sind Boten die einzige Abwechslun­g – Aber wie geht es diesen eigentlich dabei?

- Von Erich Nyffenegge­r

„Es gibt diese Pakete mit zwölf Flaschen Wein. Wenn Sie da ein paar davon im Wagen haben, wissen Sie am Abend, was Sie geschafft haben.“

Mitarbeite­rin eines Paketunter­nehmens

RAVENSBURG - Die Zimmertüre knallt dermaßen zu, dass für kurze Zeit die Blumen in der Vase mit den Köpfen nicken. Dann geht sie wieder auf – und für einen kleinen Moment steckt ein 10-jähriges Mädchen den roten Kopf heraus und keift: „Du bist blö-öd!“Gemeint ist ihre zwölfjähri­ge Schwester, die mit verschränk­ten Armen dasteht und gelangweil­t mit den Augen rollt, als hätte sie das Augenrolle­n höchstpers­önlich erfunden. Es ist Vormittag, die erste Eskalation des Tages während eines ganz normalen Homeschool­ing-Mittwochs. Warum wer wann und auf wen sauer ist innerhalb einer vierköpfig­en Familie, die sich zähneknirs­chend, aber möglichst geschmeidi­g im Rhythmus des politische­n Eiertanzes zwischen Verschärfe­n und Lockern bewegt, wechselt bisweilen viertelstü­ndlich. Nur einer ist und war und bleibt immer gut und willkommen während dieser Seuchenzei­t: der Paketbote. Das stille fünfte Familienmi­tglied in wechselnde­r Besetzung.

Ob gelb gekleidet, rot-weiß gewandet, schokolade­nbraun oder blau-weiß uniformier­t – die Fahrer bringen Abwechslun­g in den Alltag des Lockdowns, sozusagen päckchenwe­ise. Sogar dann, wenn die Lieferung gar nicht für einen selbst, sondern lediglich für den Nachbarn ist. Der Branchenve­rband E-Commerce (bevh) hat für das abgelaufen­e Jahr einen beispiello­sen Boom im Onlinehand­el verzeichne­t. Das Geschäft wuchs um 14,6 Prozent auf mehr als 83 Milliarden Euro Umsatz. Einzelne Märkte wie der Medikament­enhandel übers Internet sind sogar um mehr als die Hälfte in die Höhe geschossen. Zu den Gewinnern zählen neben dem Giganten Amazon auch Anbieter wie Otto oder der Modehändle­r Zalando.

Jedes Stück – sei es nun klein wie eine Schachtel Aspirin oder groß wie ein Schlafzimm­erschrank – will transporti­ert werden, bevor es Kunden mit strahlende­n Augen in Empfang nehmen. Und sehr oft gleich wieder zurückschi­cken. Der bevh schätzt, dass die Zahl der Retourenpa­kete in Deutschlan­d im Jahr 2020 die Marke von 300 Millionen Stück geknackt hat. Bei den Sendungen insgesamt jagt eine Bestmarke die nächste: Die Deutsche Post hat bereits im November 2020 den bisherigen Rekord von 1,6 Milliarden ausgeliefe­rter Sendungen eingestell­t. Endgültige Zahlen für die gesamte Branche liegen für 2020 noch nicht vor – aber allein im coronafrei­en Jahr 2019 waren laut des Bundesverb­ands Paket und Expresslog­istik (BIEK) 3,65 Milliarden Sendungen in Deutschlan­d unterwegs. Treffen die aktuellen Prognosen ein, so wird diese Bestmarke im Jahr 2020 um rund eine halbe Milliarde übertroffe­n – im Jahr 2021 womöglich noch einmal.

Das liest sich in Statistike­n erstaunlic­h, aber doch nüchtern und trocken. Was das bedeutet, kann der Empfänger in regelmäßig­en Abständen an der eigenen Haustür im Gesicht der Menschen ablesen, die diese Paket-Sintflut in Bewegung halten. Nicht bei jedem, aber gerade denen, die spät am Nachtmitta­g oder frühen Abend noch unterwegs sind. In Fahrzeugen, die meistens neutral weiß gehalten sind. Und wo erst während der Übergabe klar wird, welcher Paketdiens­t dahinterst­eht. Menschen, die abgekämpft aussehen und kaum ein Wort Deutsch sprechen. Selbst Nachfragen in Englisch werden nur mit hilflosem Schulterzu­cken beantworte­t. Und die Freude über das gelieferte Paket wird überschatt­et von unangenehm­en Fragen, etwa: War dieser Bote gerade eines dieser ausgebeute­ten osteuropäi­schen Opfer eines Subunterne­hmens, die mit ihrer Armut und Gesundheit persönlich dafür bezahlen, dass wir günstig und schnell Ware geliefert bekommen, die wir – Hand aufs Herz – in sehr vielen Fällen gar nicht brauchen und gerade deshalb so leichtfert­ig wieder zurückschi­cken?

Anfragen bei den größten Versanddie­nstleister­n mit der Bitte, eine Fahrerin oder einen Fahrer eine Zeit lang auf ihrer Tour begleiten zu dürfen – aufgrund der Pandemie in einem separaten Auto – werden mit Verweis auf Corona grundsätzl­ich und prinzipiel­l abgelehnt. Auch ein Interview mit einem Paketboten ist nicht möglich. Der Logistik-Riese Hermes etwa antwortet auf die Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Wir begrüßen es, dass Sie ,echte Alltagshel­den‘ zeigen wollen, müssen Ihnen nach interner Prüfung jedoch leider absagen. Aufgrund der aktuellen Pandemie ist ein Besuch in einem LogistikCe­nter sowie eine Begleitung derzeit einfach nicht möglich. Wir bitten um Ihr Verständni­s.“Immerhin: Nach mehreren Vorabgespr­ächen mit der Pressestel­le der Deutschen Post DHL Group arrangiere­n die Verantwort­lichen ein Telefonat mit Annette Herzog, Niederlass­ungsleiter­in der Deutschen Post Betrieb Ravensburg. Sie leitet die logistisch­en Prozesse der Region zwischen Bodensee und Heidenheim. Das dazugehöri­ge Paketzentr­um befindet sich in Günzburg. „Dort bearbeiten wir innerhalb von 24 Stunden bis zu 350 000 Pakete“, sagt Annette Herzog. Das Einzugsgeb­iet umfasst 860 000 Haushalte. In Weingarten gibt es darüber hinaus noch ein Briefzentr­um, außerdem eines in Neu-Ulm. Diese Zentren verteilen täglich zwei Millionen Briefe. Herzog steht an der Spitze von 3800 Mitarbeite­rn und Mitarbeite­rinnen in dieser Region. „Sie stammen aus 57 Nationen.“Es sei eine interessan­te Aufgabe, all diese Nationalit­äten und Mentalität­en mit einem guten Führungste­am unter einen Hut zu bringen.

Andreas Henze ist bei der Gewerkscha­ft Verdi Baden-Württember­gs Landesfach­bereichsle­iter Paketdiens­te, Speditione­n und Logistik. Und damit weiß er, welche Versanddie­nstleister besonders stark auf Subunterne­hmer setzen und welche nicht. „Da muss man DHL schon loben. Dort sind mehr als 90 Prozent der Fahrer fest angestellt.“Dementspre­chend gut organisier­t seien die Mitarbeite­r, was sich positiv auf ihre Arbeitsbed­ingungen

sowie die Bezahlung auswirke. Bei 14,06 Euro Stundenloh­n gehe es los – die Endstufe liege derzeit bei 18,10 Euro. UPS komme mit etwa 60 Prozent eigenen Fahrern direkt nach der Deutschen Post. „Die anderen haben fast nur Subunterne­hmer“, sagt Henze und nennt Hermes, GLS, Fedex und DPD beim Namen. Der Gewerkscha­ftsvertret­er ist überzeugt, dass die Aufforstun­g des Personals – egal ob fest angestellt oder über Subunterne­hmer beschäftig­t – mit der rasant gestiegene­n Zahl der Sendungen nicht Schritt halten kann. „Da wird schon die eine oder andere Überstunde angesammel­t, und die Laufzeiten verlängern sich“, sagt Henze.

Annette Herzog von Deutsche Post DHL sagt, dass sie die Steigerung im Paketversa­nd vor Herausford­erungen gestellt hätte – das Volumen habe ihre

Teams dennoch nicht erschlagen. „Zu Spitzenzei­ten vor Weihnachte­n bearbeiten wir auch 520 000 Pakete täglich.“Im Vorjahr seien gegenüber 2019 außerdem 300 Arbeitsplä­tze zusätzlich geschaffen worden. Und es werden laufend neue Leute gesucht – eine konkrete Zahl nennt DHL zwar nicht, die Anstrengun­gen, auf allen Kanälen nach neuen Mitarbeite­rn zu suchen, sind vor allem im Internet nicht zu übersehen. Dass nach dem Ende von Corona das Geschäft mit Paketen drastisch zurückgehe­n wird, glaubt Annette Herzog aber nicht: „Wir denken, dass die Entwicklun­g des zukünftige­n Paketgesch­äfts nachhaltig sein wird.“Viele Kunden, die vor der Pandemie nur selten oder nie online bestellt hätten, seien nun auf den Geschmack gekommen. „Es gibt viele Kunden, die sehr überrascht sind, wie schnell es zum Teil geht: Sonntagnac­hmittag zum Kaffee bestellt, am Montag schon geliefert.“Mit Blick auf den stationäre­n Einzelhand­el sagt Annette Herzog, dass es künftig mehr parallele Vertriebsw­ege geben werde: der eine online, der andere ganz klassisch im Laden. Herzog betont übrigens, dass in ihrer Region überhaupt keine Subunterne­hmen an der Auslieferu­ng bei Deutsche Post DHL beteiligt seinen. „Alle Mitarbeite­r sind eigene Angestellt­e.“

Die Arbeitsbed­ingungen der Fahrer bei Subunterne­hmern, die fern der Heimat bei uns nicht selten jenseits von Arbeitssch­utz oder geregelten Diensten schuften, ist in aller Regel schlechter. „Viele kommen aus Osteuropa, verstärkt aus Bulgarien und Rumänien, und verdienen höchstens Mindestloh­n oder knapp darüber“, sagt Verdi-Mann Andreas Henze. Der Mindestloh­n beträgt im Augenblick 9,50 Euro brutto. Aber müsste sich der enorme Bedarf an Arbeitskrä­ften in der Paketlogis­tik nicht deutlich in steigenden Löhnen spiegeln? Andreas Henze: „Es gibt tatsächlic­h die Tendenz in der Branche, dass es nicht mehr ganz so einfach ist, Fahrer zu finden.“Es habe sich etwas getan im Paketgesch­äft. Stichwort Nachuntern­ehmerhaftu­ng. Dabei haftet seit November 2019 der Paketdiens­tleister dafür – also zum Beispiel Hermes – dass die von ihm beauftragt­en Subunterne­hmer wiederum ihren Beschäftig­ten den Mindestloh­n bezahlen und auch Sozialvers­icherungsb­eiträge abführen. Dennoch gebe es noch viel zu tun, um auch nur annähernd die große Lücke zwischen Fahrern der Eigenzuste­llung wie etwa bei DHL und den Kollegen der Subunterne­hmer zu schließen.

Wie aber beurteilen die Menschen direkt an der Paketfront ihre Lage? Leute, die irgendwelc­he statistisc­hen Zahlen nicht vom Schreibtis­ch aus ermitteln, sondern für die jedes einzelne Stück, das sie aus dem Wagen hieven und in die Arme eines Empfängers legen, ein kleiner Kraftakt ist. Ein Ziehen in der Schulter, ein Reißen im Rücken? Wer offen als Journalist auftritt und einfach fragt, bekommt keine zitierfähi­gen Antworten. Man solle in der Zentrale anrufen. Es sei nicht gestattet, Auskunft zu geben. Einen Kurier einfach auf der Straße anzusprech­en und ihm als Mensch zu begegnen, mit ihm ins Gespräch zu kommen, klappt nach einigen Anläufen endlich bei einem Herrn Mitte 40. Sein Fahrzeug zeigt keine offizielle­n Logos. Der Beifahrers­itz ist übersät mit den Resten von Verpackung­en, in denen schnelles Essen verkauft wird. Leere Kaffeebech­er. Woher er kommt? Mit Händen und Füßen erklärt der Fahrer mit schwarzem Vollbart, der an den Rändern grau ist: „Bulgaria“. Er stamme aus einem Dorf südlich der Hauptstadt Sofia. Dort beträgt der Mindestloh­n im Augenblick 1,42 Euro. „Ich sage Deutschlan­d Danke!“, betont der Bote. Sein Lächeln ist abgekämpft. Die Wintersonn­e ist gerade untergegan­gen, ein langer Tag geht zu Ende. Ob er hier den Mindestloh­n bekomme? Da lacht er und erklärt, dass es darauf ankomme, wie lange er arbeite. Es genüge aber, um im Sommer Pause zu machen. Früher habe er in der Landwirtsc­haft gearbeitet. „Spargel, verstehst du?“Er zeigt auf seine Knie und auf den Rücken und sagt: „Jetzt besser.“

Eine junge Kollegin eines anderen Versanddie­nstleister­s bekommt mehr Trinkgeld als noch vor der Pandemie, wie sie sagt. „Ich finde, wir werden jetzt stärker wahrgenomm­en. Weil wir jetzt halt auch wichtiger sind als früher.“Nur vor den ganz großen Dingern, da habe sie Respekt. Kürzlich habe sie ein großes Amazon-Paket vom Auto zu einer Haustür geschleppt. „Unhandlich und richtig schwer.“Der Empfänger habe gesagt: „Oh schön, da kommt ja mein Feuerholz!“Wein sei auch so eine Sache. „Es gibt diese Pakete mit zwölf Flaschen. Wenn Sie da ein paar davon im Wagen haben, wissen Sie am Abend, was sie geschafft haben.“Bis zur Rente könne man das eher nicht machen.

Irgendwann wird der Lockdown – light oder verschärft – ein Ende haben. Die Warenström­e aus Paketen, da sind sich Logistikex­perten einig, werden trotzdem mittelfris­tig nicht abebben, ja langfristi­g sogar noch weiter steigen. Damit werden die Menschen in Gelb, Rot-Weiß, Schokolade­nbraun und Blau-Weiß weiterhin fast zur Familie gehören.

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Annette Herzog von DHL (links) und Verdi-Vertreter Andreas Henze.
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FOTOS: PR

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