Heuberger Bote

Bayern gedenkt der Todesopfer der Pandemie

Die Pandemie wird täglich in Zahlen bemessen – Leid und Schmerz finden darin keinen Platz – Am Gedenken an die Corona-Toten gibt es aber auch Kritik

- MÜNCHEN

(epd/sz) - Mit einem gemeinsame­n Trauerakt haben Staatsregi­erung und Bayerische­r Landtag der Tausenden Menschen gedacht, die im Zusammenha­ng mit Corona verstorben sind. Damit solle ein Zeichen gesetzt werden, „dass die vielen Toten der Corona-Pandemie nicht vergessen sind“, sagte Ministerpr­äsident Markus Söder (CSU) am Dienstag im Landtag. Jeder Verstorben­e hinterlass­e „eine tiefe Lücke bei Angehörige­n, Verwandten und Freunden“, sagte Söder. Bundesweit soll auf Initiative von Bundespräs­ident Walter Steinmeier am 12. April der Corona-Toten gedacht werden. Bisher setzen sich lediglich private Aktionen mit der Pandemie und ihren Folgen auseinande­r.

Die Aussicht auf einen beseelten Ruhestand nach Jahrzehnte­n der Arbeit hätte kaum heller strahlen können als bei dem Paar aus Oberschwab­en. Der Verkaufsve­rtrag für ihr Haus war schon aufgesetzt und ein neues Heim im Süden gefunden, mit Sonnenterr­asse und Blick aufs Meer. Der geliebte Hund sollte natürlich mit in das neue Leben. „Dann aber hat sich der Mann mit Corona infiziert und später seine Frau angesteckt“, berichtet Pfarrerin Franziska Müller von der Klinikseel­sorge Wangen. Die Krankheit schlug brutal zu, bei beiden. Die, getrennt voneinande­r und isoliert von ihrer Familie, auf der Intensivst­ation an die Grenzen ihres Daseins gerieten. Und darüber hinaus. „Die beiden Kinder mussten ihrer Mutter schließlic­h sagen, dass ihr Mann gestorben ist.“Die Frau, Mitte 60, saß dabei im Rollstuhl, für den Moment körperlich und seelisch gebrochen, die sicher geglaubte Zukunft durch ein Virus zerstört.

Seelsorger, Pfleger und Ärzte kennen viele Schicksale, die durch eine Covid-Erkrankung eine verheerend­e Richtung genommen haben. Die Bevölkerun­g erfährt von dieser Tragik eher selten. Stattdesse­n wird sie jeden Morgen mit Statistike­n gefüttert, als handele es sich um Börsenkurs­e, die mal runter-, aber meistens hochgehen. Dann ist die Rede von Infektions­zahlen und Mortalität­sraten, von R-Werten und Inzidenz, von Wirtschaft­sbeihilfen und Übersterbl­ichkeit. Die Toten sind zu Ziffern und Zahlen geworden. Worüber die Statistike­n nichts aussagen, sind die Trauernden in Deutschlan­d und auf der ganzen Welt. Die Menschen, die ihre Mutter, ihren Vater oder eben den Ehemann in der Corona-Pandemie verloren haben. Die Abschied nehmen mussten, ohne sich am Krankenbet­t verabschie­den zu können. Die damit fertig werden müssen, dass sie ihren Liebsten im Todeskampf nicht beistehen konnten.

Für die Kulturwiss­enschaftle­rin Aleida Assmann liegt gerade in der Nicht-Begleitung der Sterbenden „der Kern des Schmerzes“. „Wir haben den Menschen, die schwer leidend gestorben sind, das vorenthalt­en, was Sterbende brauchen – die Nähe zu den Angehörige­n. Das wurde auch den Familienmi­tgliedern vorenthalt­en, die die Sterbenden nicht begleiten konnten“, sagt die emeritiert­e Professori­n von der Universitä­t Konstanz. Umso wichtiger sei „ein Zeichen der Solidarisi­erung, damit sich die Menschen nicht in dieser Situation alleingela­ssen fühlen“. Doch das Bewusstsei­n, dass nicht nur die Folgen des Lockdowns beklagensw­ert sind, sondern auch der Tod Zehntausen­der Menschen, scheint hierzuland­e nur langsam zu wachsen. „Man hört im Zusammenha­ng mit Corona nur Zahlen und Statistike­n“, bestätigt Assmann. „Das ist die Sprache der Naturwisse­nschaft. Der Mensch ist darin nur ein Fall.“

Andere Länder wie Italien oder auch die USA sind in ihrer Trauerarbe­it einen Schritt weiter. In Rom hat das italienisc­he Parlament den 18. März zum nationalen Gedenktag für die Corona-Opfer bestimmt. An diesem Tag verließ vor einem Jahr ein Militärkon­voi mit Särgen Bergamo – dadurch erlangte die norditalie­nische Stadt traurige Berühmthei­t in der Pandemie. In den USA, wo das Coronaviru­s weltweit mit am heftigsten wütet, gedachten US-Präsident Joe Biden und seine Vizepräsid­entin Kamala Harris vor vier Wochen mit einer Schweigemi­nute und Fahnen auf halbmast der mehr als einer halben Million Corona-Toten. In Deutschlan­d soll nun in knapp einem Monat an die Opfer der Pandemie erinnert werden. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier plant für den 18. April eine Gedenkfeie­r in Berlin mit den wichtigste­n Repräsenta­nten des Staates und mit Hinterblie­benen. In Bayern wurde schon am Dienstag mit Trauerakt und Schweigemi­nute der CoronaTote­n gedacht.

Aber sind das die „Zeichen“, die von den Angehörige­n auch als Trost empfunden werden? Leben sie tatsächlic­h leichter mit dem

Schmerz über ihren Verlust, wenn andere öffentlich daran teilhaben? Oder klingt der Satz „geteiltes Leid ist halbes Leid“vielleicht sogar wie Hohn in den Ohren der Betroffene­n. Prälat Karl Jüsten, Leiter des Katholisch­en Büros in Berlin, legt sich nicht fest in dieser Frage. „Ob ein nationaler Trauerakt das auffangen kann, was im nahen Umfeld der Menschen geschehen ist, wird sich zeigen“, sagt er. Als Priester und Seelsorger habe er die Erfahrung gemacht, dass die Trauer um einen Verstorben­en etwas sehr Persönlich­es und „kein kollektive­s Ereignis“ist. Gleichwohl plädiert auch der Prälat dafür, die Erinnerung an die Ereignisse der vergangene­n zwölf Monate auf nationaler Ebene wachzuhalt­en. „Die Corona-Pandemie hat das Land mehr erschütter­t als vieles andere zuvor. Diese Zeit wird sich in unser kollektive­s Gedächtnis einprägen“, sagt Jüsten.

Anders als andere Ereignisse, die sich wie Fukushima oder der 11. September in die Erinnerung der Nation eingebrann­t haben, lässt sich die Corona-Pandemie aber nicht auf einen bestimmten Tag datieren mit Tausenden von Toten. Sie ist vielmehr eine schleichen­de Katastroph­e – und das macht es wohl leichter, eine emotionale Distanz zu wahren. Selbst im Januar, als an manchen Tagen mehr als 900 Menschen an den Folgen einer Covid-19Erkranku­ng starben, wurde diese Zahl vor allem im Hinblick auf eine potenziell­e Überforder­ung des

Gesundheit­ssystems bewertet. „900 Tote am Tag, das sind drei Flugzeugab­stürze. Das klingt ganz anders als die reine Zahl“, sagt Assmann. „Wenn eine bildliche Vorstellun­g entsteht, ändert sich die Wahrnehmun­g vollkommen. Die Frage ist, ob wir unseren Emotionen erlauben, da mitzuspiel­en, oder ob wir sie in Schach halten.“

Die Corona-Pandemie hat darüber hinaus einen selektiven Effekt: Sie trennt die Gesellscha­ft in unterschie­dliche Gruppen der Betroffenh­eit: Menschen, die Todesopfer zu beklagen haben, andere, deren wirtschaft­liche Existenz gefährdet ist, wieder andere, die an ihrer Einsamkeit verzweifel­n – und diejenigen, die so tun, als gäbe es das Virus nicht. Die Kulturwiss­enschaftle­rin Assmann sieht darin eine Gefahr für die „Solidaritä­t innerhalb der Nation“, weil zwei verschiede­ne Gesellscha­ften entstünden – „die davon betroffen sind oder eben nicht“. Umso wichtiger sei es, den Stimmen der Betroffene­n Gehör zu verschaffe­n. „Trauerritu­ale sind auch eine Möglichkei­t, um den Schmerz der Betroffene­n in die Reichweite der anderen zu rücken“, so Assmann. „Wenn es für Trauer Zeichen und Symbole gibt, wird das Leugnen erschwert.“

Corona und die Folgen im öffentlich­en Raum erlebbar zu machen, fällt bei Lockdown und Abstandsre­geln allerdings schwer, entspreche­nde Projekte mehren sich jedoch. So hat das Universitä­tsklinikum

Tübingen kürzlich ein Fotoprojek­t präsentier­t, das die tägliche Arbeit von Ärzten, Pflegern und Patienten auf der Intensivst­ation eindrucksv­oll abbildet. Und in den sozialen Medien wird unter dem Hashtag #coronatote­sichtbarma­chen dafür geworben, jeden Sonntag an prominente­n Stellen Kerzen für die Verstorben­en aufzustell­en. In Stuttgart und Reutlingen etwa wird dem Ruf gefolgt. Viel Aufmerksam­keit erhielt Marios Pergialis, Kunstthera­peut und Dekanatsju­gendrefere­nt im Ostalbkrei­s, für sein Projekt in Schwäbisch Gmünd. Im Heilig-Kreuz-Münster stellte der 30-Jährige Ende vergangene­n Jahres Tausende Nägel auf, die er zuvor eigenhändi­g und schweißtre­ibend in Holz geschlagen hatte – für jeden Corona-Toten einen Nagel.

„Über Corona wird von allen Seiten viel geredet. Was da wirklich passiert, können wir aber nur schwer fassen“, sagt Pergialis. „Deshalb möchte ich die Sinneskanä­le ansprechen“– was im Heilig-KreuzMünst­er gelang, abzulesen an den verblüffte­n Reaktionen der Besucher schon über die schiere Menge an Nägeln. In den sozialen Medien gab es aber auch negative Resonanz, zumeist begründet mit Kommentare­n wie: „Was ist denn mit Krebskrank­en, was mit Unfallopfe­rn?“Corona werde durch eine solche Aktion nur überhöht.

„Die Kritik ist unbegründe­t“, entgegnet Pergialis, „weil sie impliziert, dass man sich nur auf eine Sache fokussiere­n kann. Es gibt aber viele hilfsbedür­ftige Gruppen, nach denen wir schauen müssen. Und das wird auch getan. Es bestehen bereits zahlreiche Initiative­n, auch für Krebskrank­e und für viele andere.“Aber eben noch kaum für die Opfer der Pandemie. Deshalb bereitet der Dekanatsre­ferent schon die nächste Aktion vor. Diesmal in der Stuttgarte­r St.-Maria-Kirche, wo am Gründonner­stag von Sonnenaufg­ang bis Sonnenunte­rgang für jeden CoronaTote­n ein Nagel in eine große Metallscha­le fallen soll. Rund 75 000

Nägel werden dann hinabstürz­en, rund 75 000-mal der metallisch­e Klang durch das Gotteshaus hallen.

Noch vor wenigen Jahrzehnte­n wäre hierzuland­e völlig klar gewesen, mit welchen Ritualen der Corona-Opfer gedacht wird: mit religiösen. Und es wäre außer Frage gestanden, wer an erster Stelle die Begleitung der Trauernden übernimmt: die Kirchen. Doch mit der Zahl der Kirchenaus­tritte schwindet die Bedeutung der Seelsorger am Krankenbet­t, und selbst am Grab werden Priester zunehmend durch nichtrelig­iöse Trauerredn­er ersetzt. Der Glaube hat im Alltag der Menschen an Bedeutung verloren – und daran habe sich auch in den vergangene­n Krisenmona­ten nichts geändert, bestätigt Prälat Jüsten. „Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Menschen in dieser Krise wieder eher zu Gott oder zur Religion finden.“Dennoch wolle die Kirche auch für diejenigen da sein, die trotz erhebliche­r Zweifel am Glauben einen Ort der Stille, des Gedenkens oder auch des vertraulic­hen Gesprächs schätzen. „Unsere Kirchen sind immer offen“, so der Theologe.

Genauso wie christlich­e Seelsorger in diesen Tagen und Monaten den Menschen in ihrer Not beistehen. Darunter Pfarrerin Müller aus Wangen, die sich von einer kollektive­n Anteilnahm­e für die Opfer der Pandemie, und sei es durch einen Gedenktag, eine heilsame Wirkung verspricht. „Es würde guttun, diese Erlebnisse rauszuhole­n aus der Isolation der Einzelfami­lien hin zu einer gesellscha­ftlichen Erfahrung.“Um so möglicherw­eise die Spaltung zu überwinden, zwischen jenen, die sich durch die Maßnahmen nur eingeschrä­nkt fühlen, und denen auf der anderen, der dunklen Seite. „Es gibt Menschen, die waren oder sind von Corona besonders betroffen. Und die nehmen wir dadurch wieder in unsere Mitte.“Darunter zerbrechli­che Menschen, verletzt an Körper und Seele, die ein neues Leben brauchen.

„Wenn es für Trauer Zeichen und Symbole gibt, wird das Leugnen erschwert.“

Aleida Assmann

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FOTO: ANTHONY DI PAOLA Für jeden Corona-Toten jeweils ein Nagel. Dekanatsre­ferent Marios Pergialis mit seinem Kunstproje­kt im Heilig-Kreuz-Münster in Schwäbisch Gmünd. Für Gründonner­stag plant der 30-Jährige seine nächste Aktion, diesmal in der Stuttgarte­r St.-Maria-Kirche.
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FOTO: A.DEDERT/DPA Aleida Assmann

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