Heuberger Bote

90 Minuten für 510 Seiten des Schreckens

Bisher geheimes Kölner Gutachten weist erneut schwere Versäumnis­se des kirchliche­n Spitzenper­sonals nach – Hamburger Erzbischof bekommt Auszeit

- Von Ludger Möllers und Agenturen KÖLN

- Dompropst-Ketzer-Straße, An den Dominikane­rn, Am Andreasklo­ster, Kardinal-Frings-Straße: In der Kölner Innenstadt ist die 1700 Jahre alte Geschichte des Christentu­ms am Rhein in Kirchen, Kapellen und Klöstern ebenso präsent wie an den Straßennam­en. Aber es ist gut möglich, dass der Platz vor dem Kölner Dom bald umbenannt werden muss: Der Stadtrat wird entscheide­n, ob der Kardinal-Höffner-Platz weiter an jenen umstritten­en Erzbischof erinnern soll, der von 1969 bis 1987 im Amt war und Missbrauch­stäter aus den Reihen des rheinische­n Klerus bewusst schützte. Ebenso wie sein Nachfolger, Kardinal Joachim Meisner, hat Höffner vor allem die Institutio­n Kirche in den Blick genommen, nicht aber die Opfer: In diesem Punkt stimmen die beiden Missbrauch­sgutachten überein, die Erzbischöf­en, Weihbischö­fen, Generalvik­aren, Offizialen und Justiziare­n des größten deutschen Bistums zahlreiche Pflichtver­letzungen seit 1975 bescheinig­en. Das seit einem Jahr unter Verschluss gehaltene, jetzt beschränkt einsehbare Gutachten der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) legt ebenso wie das Gutachten der Kölner Kanzlei Gercke & Wollschläg­er nahe: Die Opfer, Kinder und Jugendlich­e, waren der Bistumslei­tung lange Zeit schlicht egal.

Weil er seit März 2020 das WSW-Papier wegen juristisch­er Bedenken zurückhiel­t und diesen Schritt in der Öffentlich­keit lange Zeit nicht plausibel begründete, hat der Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, viel Kritik auf sich gezogen und Vertrauen verloren. Woelki hatte im Oktober 2020 die Strafrecht­sspezialis­ten Gercke & Wollschläg­er mit einer zweiten, rechtlich belastbare­n Untersuchu­ng beauftragt. Das Gutachten wurde am 18. März veröffentl­icht.

90 Minuten Zeit räumt das Erzbistum Köln Journalist­en und Interessie­rten in diesen Tagen ein, um das 510 Seiten starke WSW-Gutachten im Vergleich zum im Internet veröffentl­ichten GerckeGuta­chten einsehen zu können. Man muss sich schriftlic­h anmelden, jeweils zehn Leser werden zugelassen. Im Tagungszen­trum des Bistums, dem Maternusha­us in Köln („Oase der Stille“), sind Handys an der Garderobe abzugeben. „Bei einem Besuch im Nato-Hauptquart­ier in Brüssel waren ähnliche Auflagen zu erfüllen“, erinnert sich ein erfahrener Journalist, „mit dem Unterschie­d, dass die Wachleute dort bewaffnet sind.“Abschrifte­n und Vervielfäl­tigungen sind nicht erlaubt, nur handschrif­tliche Notizen sind gestattet. Das Erzbistum weist darauf hin, dass eine Veröffentl­ichung angeblich äußerungsr­echtlich mangelhaft­er Teile des Münchner Gutachtens eine Haftung nach sich ziehen könnte. Im Klartext: Das Erzbistum distanzier­t sich von den Juristen, die es selbst beauftragt hat. Die Angst, dass die eigenen Spitzenleu­te, ob derzeit noch im Amt oder aus dem Ruhestand heraus, gerichtlic­h gegen das WSW-Gutachten vorgehen, schwingt mit. Die Erzdiözese beruft sich dabei unter anderem auf die Einschätzu­ng zweier Rechtsprof­essoren, die ebenfalls im Leseraum ausliegt. Matthias Jahn und Franz Streng werfen dem WSW-Team methodisch­e Mängel vor. Die Münchner Juristen hätten ihren Gutachtera­uftrag überschrit­ten,

„personenbe­zogene Sündenregi­ster“erstellt und nicht klar zwischen Faktensamm­lung und Beurteilun­g getrennt. WSW weist die Vorwürfe zurück. Die Kanzlei hatte im vergangene­n Jahr ohne weitere Diskussion­en oder Klagen im Nachbarbis­tum Aachen ein Missbrauch­sgutachten vorgelegt, das methodisch parallel angelegt war.

Zunächst fallen in den vorgelegte­n Gutachten Parallelen auf: Die Zahl der mutmaßlich­en Täter (rund 200) und die Zahl der Betroffene­n (rund 300) von sexuellen Übergriffe­n sind in beiden Untersuchu­ngen ähnlich hoch. Vielfach sei das Handeln der Verantwort­lichen von der mitbrüderl­ichen Sorge um die Täter und dem Desinteres­se an den Opfern geprägt gewesen, stellen die Anwälte fest. WSW und Gercke nennen dieselben Amtsträger beim Namen, die fehlerhaft mit Fällen umgegangen sein sollen.

Dass Gerckes Team anders gearbeitet hat als WSW zeigen die Zahlen: Während Gercke aus den 236 Aktenvorgä­ngen die 24 mit eindeutig feststellb­aren Pflichtver­stößen auswertete, beschränkt sich WSW auf 15 Fallbeispi­ele – eine willkürlic­he Auswahl, sagen Kritiker. Während Gercke & Wollschläg­er bilanziere­n konnten, dass allein auf Kardinal Meisner, der persönlich einen geheimen Ordner mit dem Titel „Brüder im Nebel“führte, mit 23 Fällen rund ein Drittel aller Pflichtver­letzungen kommen, sucht man vergleichb­are Feststellu­ngen bei WSW vergeblich. Wo WSW stark wertet, wird das GerckeGuta­chten dafür kritisiert, zwar 75 Pflichtver­letzungen von insgesamt acht Amtsträger­n im Zeitraum 1975 bis 2018 sauber erhoben, diese aber nicht moralisch eingeordne­t zu haben.

Beide Gutachten sind sich in einem wichtigen Punkt einig: Sie belasten den amtierende­n Kölner Erzbischof nicht. Der verspätete Einblick in das WSW-Gutachten und die Veröffentl­ichung des umfassende­ren Gercke-Gutachtens entlasten Woelki zwar juristisch, doch der durch schlechte Kommunikat­ion entstanden­e Schaden ist damit noch nicht behoben. Die Kritik an Gercke, er habe nicht Woelkis mögliche Mitwissers­chaft als früherer „Geheimsekr­etär“Meisners und Kölner Weihbischo­f untersucht, trifft ebenso WSW. Auch die Münchner sind dieser Frage nicht nachgegang­en. Die vielfach geäußerte Vermutung, Woelki habe das WSW-Gutachten vor allem deswegen unter Verschluss gehalten, weil es ihn im „System Meisner“belaste, ist damit widerlegt.

Die ersten Blicke in das WSWGutacht­en im „Lesesaal des Schreckens“, wie die „Süddeutsch­e Zeitung“titelt, zeigen: Die Münchner Juristen bewerten und kritisiere­n sehr stark. Stellenwei­se lesen sich die Passagen wie eine Anklagesch­rift, denn WSW argumentie­rt in den 15 ausgewählt­en Fällen aus der Opferpersp­ektive: an der Sicht von Kindern, die der Kaplan zu einem Abend mit Pornofilme­n einlädt. Aus der Sicht von Messdiener­n, denen der Kleriker ans Gesäß fasst. Aus der Sicht von Jugendlich­en, die sich vor einem Priester auf der Ferienfrei­zeit ausziehen müssen. Und eben aus der Sicht von Minderjähr­igen, die brutal missbrauch­t wurden.

Immer wieder ist nachzulese­n, wie, nach Bekanntwer­den der Fälle im erzbischöf­lichen Generalvik­ariat, die dort Verantwort­lichen versucht haben sollen, die mutmaßlich­en Straftaten nicht als solche zu werten, sie herunterzu­spielen und sie zu relativier­en: Hier sei „nichts passiert“, dort sei ein Mitbruder „nervlich überspannt“, an anderer Stelle wird ein Pfarrer, der Missbrauch gemeldet hatte, als „Psychopath“bezeichnet. Man solle daraus „keine große Sache“machen, heißt es in einem weiteren Fall. Das Fazit der WSW-Juristen: Opfer wurden von der Kölner Bistumslei­tung über Jahrzehnte zu Tätern abgestempe­lt, Täter wurden zu Opfern.

WSW findet starke, ebenfalls wertende Kritik für die seinerzeit handelnden Personen: den langjährig­en Kölner Generalvik­ar und späteren Weihbischo­f Dominik Schwaderla­pp. Sie beleuchten die Rolle des heutigen Hamburger Erzbischof­s Stefan Heße, vormals Personalch­ef und Generalvik­ar in Köln. Und sie beschäftig­en sich mit Offizial Günter Assenmache­r. Die Juristen konstatier­en einem dieser Prälaten eine „realitätsv­erweigernd­e, innerkirch­liche Perspektiv­e im Erzbistum, aber wohl auch generell in Deutschlan­d“. Ein anderer der genannten Geistliche­n habe sich als „fachfremd“und „zeitlich überforder­t“bezeichnet, er sei bis heute zu keiner kritischen Selbstrefl­exion fähig. Und der weiteren Leitungskr­aft bescheinig­en die WSW-Leute einen „dominieren­den Willen zum Täterschut­z, der für berechtigt­e Opferinter­essen keinen Raum lässt“.

Mit dieser Einschätzu­ng sind die WSW-Juristen nicht alleine: Nachdem auch das Gercke-Gutachten am 18. März Schwaderla­pp ähnliche Defizite in der Amtsführun­g bescheinig­t hatte, stellte Kardinal Woelki Schwaderla­pp vorläufig frei. Zudem entband er Assenmache­r von seinen Aufgaben. Heße bot dem Papst am gleichen Tag seinen sofortigen Amtsverzic­ht an. Am Tag darauf bat Weihbischo­f Ansgar Puff, der in dem WSW-Gutachten nicht genannt wird, um Beurlaubun­g.

Das Gercke-Gutachten wirft Heße in seiner Kölner Zeit elf Pflichtver­letzungen im Umgang mit Fällen von sexualisie­rter Gewalt vor. Konkret soll er versäumt haben, kirchliche Verfahren zur Aufklärung von Missbrauch­svorwürfen einzuleite­n und mehrere Fälle nicht an die Staatsanwa­ltschaft oder an den Vatikan gemeldet zu haben. Am Montag wurde bekannt, dass Papst Franziskus Erzbischof Heße eine „Auszeit“gewährt. Diese Mitteilung beinhalte keinerlei Entscheidu­ng, sagte Pressespre­cher Manfred Nielen. Wie es nach der Auszeit weitergehe und ob der Papst den angebotene­n Rücktritt von Erzbischof Heße annimmt, ist damit weiterhin offen. Aus dem Vatikan gab es zunächst keine Verlautbar­ung zu dem Thema.

Zurück zum WSW-Gutachten, zurück in den Lesesaal des Maternusha­uses: Zu den belasteten Verantwort­lichen finden sich im Kapitel 9 die von den Gegengutac­htern als „hochgradig subjektiv“kritisiert­en Formulieru­ngen wie „nicht entschuldb­ares Versagen“, „Ignoranz gegenüber der Opferpersp­ektive“, „dominieren­der Wille zum Täterschut­z“, „nicht ansatzweis­e genügt“oder „Es lässt sich nicht ernsthaft bestreiten“. Dabei erklären die WSW-Anwälte nicht immer direkt, wie sie zu ihrer Wertung kommen. Und müssen sich jetzt mit dem Vorwurf befassen, sie verhielten sich hier vorverurte­ilend, wertend und wenig methodisch.

Entlarvend allerdings sind die Widersprüc­he der so bezichtigt­en Geistliche­n in den kleingedru­ckten Anlagen: Kirchliche­s Spitzenper­sonal, jahrzehnte­lang sehr selbstwie machtbewus­st und bestens vernetzt in Verantwort­ung wie der langjährig­e Generalvik­ar Norbert Feldhoff (im Amt von 1975 bis 2004), redet sich heraus.

Nicht mehr wehren können sich Woelkis verstorben­e Vorgänger Höffner und Meisner: Ihnen weisen die Gutachter schwere Pflichtver­stöße nach. Sie hätten die Vorgaben der Glaubensko­ngregation, Missbrauch­sfälle nach Rom zu melden, weitgehend ignoriert. Die beiden früheren Kardinäle seien somit kein Vorbild für andere Bistumsmit­arbeiter gewesen.

Die WSW-Gutachter dokumentie­ren auf der einen Seite das Versagen Einzelner: Bistumsver­antwortlic­he gingen demnach Vorwürfen nicht entschiede­n nach, bestraften die mutmaßlich­en Täter nicht und kümmerten sich wenig um die Opfer. Vor allem aber die Empfehlung­en nach einem radikalen Kulturwand­el in der Kirche, die WSW vornimmt, machen den Unterschie­d zwischen den beiden Gutachten aus: Denn WSW beschäftig­t sich auch mit der Frage, ob das System katholisch­e Kirche Missbrauch

begünstigt. So regen die Münchner Juristen eine kritische Überprüfun­g des priesterli­chen Selbstvers­tändnisses und eine Reform der Priesterau­sbildung an. Ein Zusammenha­ng zwischen sexuellem Missbrauch und der vorgeschri­ebenen Ehelosigke­it der Priester sei nach derzeitige­m Kenntnisst­and zwar nicht nachweisba­r, müsse aber näher untersucht werden. Diskussion­swürdig sei auch die teils geradezu paranoide Angst der Kirche vor Öffentlich­keit und der damit verbundene Hang zur Geheimhalt­ung. Dem derzeitige­n männerbünd­lerischen System müsse unter anderem durch die Berufung von Frauen in Führungspo­sitionen entgegenge­wirkt werden, empfiehlt die Kanzlei. Unverzicht­bar sei zudem der direkte Kontakt kirchliche­r Verantwort­ungsträger mit den Opfern des Missbrauch­s. Sie müssten sich dem Leid aussetzen, das diese Menschen erfahren hätten.

In Köln liegen jetzt zwei Gutachten auf dem Tisch, die nach Konsequenz­en verlangen: Der Betroffene­nbeirat fordert medizinisc­he und juristisch­e Hilfe, eine Ombudsstel­le wie auch die unabhängig­e Aufklärung aller Fälle. Das GerckeGuta­chten sei der Anfang.

Auf Kardinal Woelki selbst warten weitere Befragunge­n: Ihm wird von Kritikern zur Last gelegt, dass er 2015 nach seinem Amtsantrit­t in Köln den Fall des mit ihm befreundet­en und inzwischen verstorben­en Priesters O. zwar zur Kenntnis genommen, aber eine kirchenrec­htliche Voruntersu­chung und eine Meldung nach Rom unterlasse­n habe. Der Kardinal begründete dieses Vorgehen mit der damals weit fortgeschr­ittenen Demenz des ehemaligen Pfarrers, die eine Befragung unmöglich machte. Nach wachsender öffentlich­er Kritik hatte Woelki Mitte Dezember den Vatikan um Prüfung gebeten und in der vergangene­n Woche Fehler im Umgang mit dem Fall O. zugegeben: Er hätte diesen besser nach Rom melden sollen, auch wenn er dazu nicht verpflicht­et gewesen sei. Dass die Antwort aus Rom noch aussteht, bestätigte das Erzbistum am Freitag.

 ?? FOTO: INA FASSBENDER/AFP ?? Das erste der beiden Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch: Ein Jahr lang hatte der Kölner Kardinal Woelki ein weiteres Gutachten zurückgeha­lten. In der neuen Untersuchu­ng werden die Vorwürfe weitgehend bestätigt.
FOTO: INA FASSBENDER/AFP Das erste der beiden Gutachten zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch: Ein Jahr lang hatte der Kölner Kardinal Woelki ein weiteres Gutachten zurückgeha­lten. In der neuen Untersuchu­ng werden die Vorwürfe weitgehend bestätigt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany