Steigende Zahl an Psychotherapeuten
Die Corona-Pandemie wird zusehends auch zur Gefahr für die psychische Gesundheit – Besonders junge Menschen sind davon betroffen
WIESBADEN (epd) - Schon vor der Corona-Krise hat die Zahl der Psychotherapeuten in Deutschland deutlich zugenommen. 2019 arbeiteten hierzulande rund 48 000 Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag in Wiesbaden mitteilte. Das waren 19 Prozent mehr als noch 2014. Ihre Zahl stieg seit 2015 stetig jedes Jahr durchschnittlich um 2000 an – und diese Tendenz dürfte sich noch verstärken. Aufgrund psychischer Belastungen in der Pandemie vor allem durch soziale Isolation warnen Experten vor einem weiteren Anstieg von Depressionen.
RAVENSBURG - An schlechten Tagen fühlen sich für Isabell Schick die zehn Meter von ihrem Bett ins Wohnzimmer an wie zehn Kilometer. „Es kommt mir dann so vor, als ob jeder Knochen meines Körpers 50 Kilo wiegen würde“, erzählt sie.
Von diesen schlechten Tagen gab es seit Beginn der Corona-Pandemie viele. Die Ulmerin ist vor über 20 Jahren an Depressionen erkrankt. Mit einer Strategie aus „mal zu Hause bleiben und mal unter Menschen gehen“konnte Schick über die Jahre jedoch mit der Krankheit umgehen.
Doch die Corona-Maßnahmen machen diese Strategie unmöglich. „Im Lockdown ging es mir wegen der Kontaktbeschränkungen richtig schlecht“, erinnert sich die 42Jährige. Das Homeschooling ihrer zehnjährigen Tochter und Zukunftsängste hätten zu „schweren Einbrüchen“geführt.
So wie Schick ergeht es derzeit vielen Menschen. Die Corona-Pandemie wird zusehends auch zur Gefahr für die psychische Gesundheit. Isolation, fehlende Tagesstrukturen
und Stress verschlimmern die seelische Situation von Betroffenen, schaffen aber auch viele neue Patienten. Die Krankenkasse DAK verzeichnet bei Fehltagen wegen psychischer Erkrankungen im Jahr 2020 einen Höchststand. Die Techniker Krankenkasse zählt für 2020 insgesamt zwar weniger Fehltage – jedoch eine weitere Zunahme psychischer Erkrankungen.
Die Universität Basel untersuchte die psychische Situation von Menschen aus 78 Ländern. Einer von zehn Befragten gab einen schlechten psychischen Zustand an und klagte über Stress, depressives Verhalten und Zukunftsängste.
Immer mehr Menschen suchen daher Unterstützung bei ihren seelischen Leiden. „Die Nachfrage nach Psychotherapie ist seit Anfang dieses Jahres um 30 bis 40 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum gestiegen“, erklärt Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer und der baden-württembergischen Landeskammer. „Die psychische Belastung der Corona-Krise wird für viele zur Überlastung.“Von Depressionen, Angstzuständen oder Zwangserkrankungen seien Alleinerziehende ebenso betroffen wie Familienväter.
Das beobachtet auch Isabell Schick, die im März 2020 als Reaktion auf die Pandemie den „Rettungs-Ring“ins Leben gerufen hat. „Wir sind entstanden und gewachsen, als fast alles stillstand“, erzählt Schick. Das Online-Selbsthilfeangebot wurde vergangenes Jahr von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit dem „Preis für digitales Miteinander“ausgezeichnet. Seit dem ersten Lockdown bekommen die verschiedenen „RettungsRinge“, also thematisch unterschiedliche Gesprächsräume im Netz, laut Schick „unglaublich viel Zulauf“. Die Menschen fühlten sich niedergeschlagen, sorgten sich um die Zukunft oder den Job. „Wir wissen manchmal gar nicht mehr, wie wir nachkommen“, sagt Schick. Das Angebot müsse kontinuierlich ausgebaut werden, in der Woche erreiche sie 100 bis 120 Menschen.
Mit solchen Hilfsangeboten müssen viele der Betroffenen eine schwere Zeit überbrücken, bis sie professionelle Hilfe erhalten. Denn das Angebot an Psychotherapeuten wird der gestiegenen Nachfrage bei Weitem nicht gerecht. „Die Kolleginnen und Kollegen können den Betroffenen oft keine rasche Behandlung anbieten“, erklärt Psychotherapeuten-Vertreter Munz.
Die Wartezeit für den Beginn einer Therapie beträgt aktuell durchschnittlich 22 Wochen, fünf Wochen mehr als noch 2019. Das hat eine Umfrage des Verbands für psychologische Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen ergeben. Diese stellen neben den ärztlichen Psychologen den größten Anteil an Therapieplätzen bereit.
Diese sind zudem sehr ungleich verteilt. Vor allem ländliche Regionen weisen Lücken bei der Versorgung
mit Psychotherapeuten auf. In der Region Neckar-Alb kommen laut Kassenärztlicher Bundesvereinigung 44,9 Therapeuten auf 100 000 Einwohner, in der Region Bodensee-Oberschwaben sind es mit 24,5 nur halb so viele. Im bayerischen Allgäu beträgt diese Zahl 20,3, in München 57,1. Dabei ist das Risiko für eine depressive Erkrankung oder eine Angststörung auf dem Land genauso groß wie in der Stadt. Das zeigt die Website „Krankheitslage Deutschland“der Krankenkasse AOK, des Robert-Koch-Instituts und des Umweltbundesamts.
Egal ob urbane Großstadt oder ländlicher Raum: Die Corona-Maßnahmen tragen ihren Teil zu den psychischen Erkrankungen bei. Ein Fall wie der von Schick ist dabei typisch. „Depressive Menschen befinden sich in einem Teufelskreis. Sie neigen ohnehin zum Rückzug und werden dann auch noch aufgefordert, möglichst zu Hause zu bleiben“, erklärt Psychotherapeut Munz. Die für sie wichtige Tagesstruktur gehe verloren. Menschen, die beispielsweise unter einem Waschzwang litten, fühlten sich durch die reale Gefahr bestätigt, sagt Munz. Viele hätten existenzielle Ängste, sorgten sich vor einer Covid-19-Erkrankung oder davor, ältere Angehörige anzustecken. „Diese Sorge wird häufig genannt“, erklärt Munz.
Die Begleitumstände der CoronaPandemie machen vor allem einer Gruppe sehr zu schaffen: den Kindern und Jugendlichen. Laut einer Umfrage des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit machen sich 41 Prozent der Abiturienten „große Sorgen“wegen der Zeit nach ihrem Abschluss.
Der sogenannten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zufolge zeigt fast jedes dritte Kind zwischen sieben und 17 Jahren in Deutschland psychische Auffälligkeiten. Sorgen und Ängste hätten demnach zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen seien verstärkt zu beobachten. „Viele Kinderärzte und auch einzelne Kinder- und Jugendpsychiater berichten zunehmend, dass die Kinder leiden“, sagte Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer bei der Vorstellung der Untersuchung. Demnach seien vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien und Heranwachsende mit Migrationshintergrund betroffen.
Insgesamt führt die CoronaPandemie zu mehr psychiatrischen Notfällen bei jungen Menschen. Die Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie verzeichnete im letzten Quartal des vergangenen Jahres 30 Prozent mehr Notfallaufnahmen als im Vorjahresquartal, wie Tobias Renner erläutert, der Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie. Vor allem die Zahl der behandlungsbedürftigen Fälle von Magersucht sei eklatant gestiegen. „Wir haben doppelt so viele Patienten mit Magersucht als noch vor der Pandemie.“
Droht diese „Generation Corona“mit langfristigen psychischen Folgen aus dieser Pandemie zu gehen? Renner kann dazu keine Prognose abgeben. „Kinder und Jugendliche sind extrem anpassungsfähig. Sie können gut adaptieren und sich mit Lebensumständen gut auseinandersetzen. Das ist eine Hoffnung.“
Aber: „Auf der anderen Seite herrschen die Pandemiebedingungen jetzt schon relativ lang vor. Wir können nicht absehen, welche Folgen die Pandemie auf Kinder und Jugendliche haben wird.“Wichtig
sei, dass man auch nach Abklingen der Pandemie auf ihren psychischen Zustand achtet und niederschwellige Kontaktmöglichkeiten vorhält. „Wer sich um die zukünftige Gesundheit der Gesellschaft bemühen möchte, muss sich um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen kümmern“, fordert Renner.
Auch sein Kollege Munz kann die langfristigen Folgen der CoronaKrise jetzt noch nicht abschätzen. „Frühere Untersuchungen hätten gezeigt, dass Menschen nach kurzfristigen Belastungssituationen, wie etwa Naturkatastrophen, ihre Stabilisierungskräfte nutzten“, erklärt er. „Erst als sie gemerkt hätten, dass das nicht mehr genügt, suchten die Menschen einen Arzt oder Psychotherapeuten auf.“Doch die Ausnahmesituation der Pandemie mit ihren Belastungen wird noch eine Weile bleiben. Munz sagt: „Wir gehen daher davon aus, dass die Nachfrage nach Psychotherapie weiter steigen wird.“
Auch Isabell Schick blickt mit Ungewissheit in die Zukunft. Doch sie ist ein wenig zuversichtlich, dass die Corona-Krise das Sprechen über psychische Krankheiten normalisiert. „Bis heute ist das ein Tabuthema. Die Menschen sagen eher, dass sie Diabetes haben, statt zu sagen: ,Ich habe Depressionen’.“
Falls die Menschen ein wenig offener werden würden, wäre das ein großer Erfolg. „Das war meine Hoffnung, von Anfang an.“
„Die Nachfrage nach Psychotherapie ist um 30 bis 40 Prozent gestiegen.“
Dietrich Munz, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer
„Kinder und Jugendliche sind extrem anpassungsfähig. Das ist eine Hoffnung.“
Tobias Renner, Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie