Heuberger Bote

Steigende Zahl an Psychother­apeuten

Die Corona-Pandemie wird zusehends auch zur Gefahr für die psychische Gesundheit – Besonders junge Menschen sind davon betroffen

- Von Daniel Hadrys

WIESBADEN (epd) - Schon vor der Corona-Krise hat die Zahl der Psychother­apeuten in Deutschlan­d deutlich zugenommen. 2019 arbeiteten hierzuland­e rund 48 000 Psychother­apeuten sowie Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeuten, wie das Statistisc­he Bundesamt am Dienstag in Wiesbaden mitteilte. Das waren 19 Prozent mehr als noch 2014. Ihre Zahl stieg seit 2015 stetig jedes Jahr durchschni­ttlich um 2000 an – und diese Tendenz dürfte sich noch verstärken. Aufgrund psychische­r Belastunge­n in der Pandemie vor allem durch soziale Isolation warnen Experten vor einem weiteren Anstieg von Depression­en.

RAVENSBURG - An schlechten Tagen fühlen sich für Isabell Schick die zehn Meter von ihrem Bett ins Wohnzimmer an wie zehn Kilometer. „Es kommt mir dann so vor, als ob jeder Knochen meines Körpers 50 Kilo wiegen würde“, erzählt sie.

Von diesen schlechten Tagen gab es seit Beginn der Corona-Pandemie viele. Die Ulmerin ist vor über 20 Jahren an Depression­en erkrankt. Mit einer Strategie aus „mal zu Hause bleiben und mal unter Menschen gehen“konnte Schick über die Jahre jedoch mit der Krankheit umgehen.

Doch die Corona-Maßnahmen machen diese Strategie unmöglich. „Im Lockdown ging es mir wegen der Kontaktbes­chränkunge­n richtig schlecht“, erinnert sich die 42Jährige. Das Homeschool­ing ihrer zehnjährig­en Tochter und Zukunftsän­gste hätten zu „schweren Einbrüchen“geführt.

So wie Schick ergeht es derzeit vielen Menschen. Die Corona-Pandemie wird zusehends auch zur Gefahr für die psychische Gesundheit. Isolation, fehlende Tagesstruk­turen

und Stress verschlimm­ern die seelische Situation von Betroffene­n, schaffen aber auch viele neue Patienten. Die Krankenkas­se DAK verzeichne­t bei Fehltagen wegen psychische­r Erkrankung­en im Jahr 2020 einen Höchststan­d. Die Techniker Krankenkas­se zählt für 2020 insgesamt zwar weniger Fehltage – jedoch eine weitere Zunahme psychische­r Erkrankung­en.

Die Universitä­t Basel untersucht­e die psychische Situation von Menschen aus 78 Ländern. Einer von zehn Befragten gab einen schlechten psychische­n Zustand an und klagte über Stress, depressive­s Verhalten und Zukunftsän­gste.

Immer mehr Menschen suchen daher Unterstütz­ung bei ihren seelischen Leiden. „Die Nachfrage nach Psychother­apie ist seit Anfang dieses Jahres um 30 bis 40 Prozent gegenüber dem entspreche­nden Vorjahresz­eitraum gestiegen“, erklärt Dietrich Munz, Präsident der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer und der baden-württember­gischen Landeskamm­er. „Die psychische Belastung der Corona-Krise wird für viele zur Überlastun­g.“Von Depression­en, Angstzustä­nden oder Zwangserkr­ankungen seien Alleinerzi­ehende ebenso betroffen wie Familienvä­ter.

Das beobachtet auch Isabell Schick, die im März 2020 als Reaktion auf die Pandemie den „Rettungs-Ring“ins Leben gerufen hat. „Wir sind entstanden und gewachsen, als fast alles stillstand“, erzählt Schick. Das Online-Selbsthilf­eangebot wurde vergangene­s Jahr von Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier mit dem „Preis für digitales Miteinande­r“ausgezeich­net. Seit dem ersten Lockdown bekommen die verschiede­nen „RettungsRi­nge“, also thematisch unterschie­dliche Gesprächsr­äume im Netz, laut Schick „unglaublic­h viel Zulauf“. Die Menschen fühlten sich niedergesc­hlagen, sorgten sich um die Zukunft oder den Job. „Wir wissen manchmal gar nicht mehr, wie wir nachkommen“, sagt Schick. Das Angebot müsse kontinuier­lich ausgebaut werden, in der Woche erreiche sie 100 bis 120 Menschen.

Mit solchen Hilfsangeb­oten müssen viele der Betroffene­n eine schwere Zeit überbrücke­n, bis sie profession­elle Hilfe erhalten. Denn das Angebot an Psychother­apeuten wird der gestiegene­n Nachfrage bei Weitem nicht gerecht. „Die Kolleginne­n und Kollegen können den Betroffene­n oft keine rasche Behandlung anbieten“, erklärt Psychother­apeuten-Vertreter Munz.

Die Wartezeit für den Beginn einer Therapie beträgt aktuell durchschni­ttlich 22 Wochen, fünf Wochen mehr als noch 2019. Das hat eine Umfrage des Verbands für psychologi­sche Psychother­apeuten und Psychother­apeutinnen ergeben. Diese stellen neben den ärztlichen Psychologe­n den größten Anteil an Therapiepl­ätzen bereit.

Diese sind zudem sehr ungleich verteilt. Vor allem ländliche Regionen weisen Lücken bei der Versorgung

mit Psychother­apeuten auf. In der Region Neckar-Alb kommen laut Kassenärzt­licher Bundesvere­inigung 44,9 Therapeute­n auf 100 000 Einwohner, in der Region Bodensee-Oberschwab­en sind es mit 24,5 nur halb so viele. Im bayerische­n Allgäu beträgt diese Zahl 20,3, in München 57,1. Dabei ist das Risiko für eine depressive Erkrankung oder eine Angststöru­ng auf dem Land genauso groß wie in der Stadt. Das zeigt die Website „Krankheits­lage Deutschlan­d“der Krankenkas­se AOK, des Robert-Koch-Instituts und des Umweltbund­esamts.

Egal ob urbane Großstadt oder ländlicher Raum: Die Corona-Maßnahmen tragen ihren Teil zu den psychische­n Erkrankung­en bei. Ein Fall wie der von Schick ist dabei typisch. „Depressive Menschen befinden sich in einem Teufelskre­is. Sie neigen ohnehin zum Rückzug und werden dann auch noch aufgeforde­rt, möglichst zu Hause zu bleiben“, erklärt Psychother­apeut Munz. Die für sie wichtige Tagesstruk­tur gehe verloren. Menschen, die beispielsw­eise unter einem Waschzwang litten, fühlten sich durch die reale Gefahr bestätigt, sagt Munz. Viele hätten existenzie­lle Ängste, sorgten sich vor einer Covid-19-Erkrankung oder davor, ältere Angehörige anzustecke­n. „Diese Sorge wird häufig genannt“, erklärt Munz.

Die Begleitums­tände der CoronaPand­emie machen vor allem einer Gruppe sehr zu schaffen: den Kindern und Jugendlich­en. Laut einer Umfrage des Instituts für Arbeitsmar­ktund Berufsfors­chung (IAB) der Bundesagen­tur für Arbeit machen sich 41 Prozent der Abiturient­en „große Sorgen“wegen der Zeit nach ihrem Abschluss.

Der sogenannte­n Copsy-Studie des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf zufolge zeigt fast jedes dritte Kind zwischen sieben und 17 Jahren in Deutschlan­d psychische Auffälligk­eiten. Sorgen und Ängste hätten demnach zugenommen, auch depressive Symptome und psychosoma­tische Beschwerde­n wie Kopf- oder Bauchschme­rzen seien verstärkt zu beobachten. „Viele Kinderärzt­e und auch einzelne Kinder- und Jugendpsyc­hiater berichten zunehmend, dass die Kinder leiden“, sagte Studienlei­terin Ulrike Ravens-Sieberer bei der Vorstellun­g der Untersuchu­ng. Demnach seien vor allem Kinder aus sozial schwächere­n Familien und Heranwachs­ende mit Migrations­hintergrun­d betroffen.

Insgesamt führt die CoronaPand­emie zu mehr psychiatri­schen Notfällen bei jungen Menschen. Die Tübinger Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie verzeichne­te im letzten Quartal des vergangene­n Jahres 30 Prozent mehr Notfallauf­nahmen als im Vorjahresq­uartal, wie Tobias Renner erläutert, der Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie. Vor allem die Zahl der behandlung­sbedürftig­en Fälle von Magersucht sei eklatant gestiegen. „Wir haben doppelt so viele Patienten mit Magersucht als noch vor der Pandemie.“

Droht diese „Generation Corona“mit langfristi­gen psychische­n Folgen aus dieser Pandemie zu gehen? Renner kann dazu keine Prognose abgeben. „Kinder und Jugendlich­e sind extrem anpassungs­fähig. Sie können gut adaptieren und sich mit Lebensumst­änden gut auseinande­rsetzen. Das ist eine Hoffnung.“

Aber: „Auf der anderen Seite herrschen die Pandemiebe­dingungen jetzt schon relativ lang vor. Wir können nicht absehen, welche Folgen die Pandemie auf Kinder und Jugendlich­e haben wird.“Wichtig

sei, dass man auch nach Abklingen der Pandemie auf ihren psychische­n Zustand achtet und niederschw­ellige Kontaktmög­lichkeiten vorhält. „Wer sich um die zukünftige Gesundheit der Gesellscha­ft bemühen möchte, muss sich um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlich­en kümmern“, fordert Renner.

Auch sein Kollege Munz kann die langfristi­gen Folgen der CoronaKris­e jetzt noch nicht abschätzen. „Frühere Untersuchu­ngen hätten gezeigt, dass Menschen nach kurzfristi­gen Belastungs­situatione­n, wie etwa Naturkatas­trophen, ihre Stabilisie­rungskräft­e nutzten“, erklärt er. „Erst als sie gemerkt hätten, dass das nicht mehr genügt, suchten die Menschen einen Arzt oder Psychother­apeuten auf.“Doch die Ausnahmesi­tuation der Pandemie mit ihren Belastunge­n wird noch eine Weile bleiben. Munz sagt: „Wir gehen daher davon aus, dass die Nachfrage nach Psychother­apie weiter steigen wird.“

Auch Isabell Schick blickt mit Ungewisshe­it in die Zukunft. Doch sie ist ein wenig zuversicht­lich, dass die Corona-Krise das Sprechen über psychische Krankheite­n normalisie­rt. „Bis heute ist das ein Tabuthema. Die Menschen sagen eher, dass sie Diabetes haben, statt zu sagen: ,Ich habe Depression­en’.“

Falls die Menschen ein wenig offener werden würden, wäre das ein großer Erfolg. „Das war meine Hoffnung, von Anfang an.“

„Die Nachfrage nach Psychother­apie ist um 30 bis 40 Prozent gestiegen.“

Dietrich Munz, Präsident der Bundespsyc­hotherapeu­tenkammer

„Kinder und Jugendlich­e sind extrem anpassungs­fähig. Das ist eine Hoffnung.“

Tobias Renner, Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Wenn alles nur noch schwarz und grau ist: Durch die Ungewisshe­iten und den Mangel an sozialen Kontakten in der Corona-Pandemie nimmt die Zahl und die Schwere von Depression­en und Angsterkra­nkungen mehr und mehr zu.

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