Debatte um mehr Freiheiten für Geimpfte
Südwesten impft ab Montag auch über 60-Jährige – Bayern hebt Priorisierung im Mai auf
STUTTGART/MÜNCHEN/BERLIN Aktuell nimmt die Corona-Impfkampagne bundesweit Fahrt auf – und mit der Zahl der Geimpften steigt auch der Ruf nach mehr Freiheiten für all jene, die bereits die zweite Dosis erhalten haben. Nach BadenWürttemberg, das am Montag angekündigt hatte, die Quarantäneregelungen für vollständig Geimpfte auszusetzen, beschloss dies am Dienstag auch Bayern. Der Berliner Senat entschied, Geimpften wieder mehr Freiheiten zu gewähren, etwa dürfen sie auch abseits des Lebensmittelhandels einkaufen oder ein Museum besuchen. Vergangene Woche hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angekündigt, dass geimpfte Menschen noch im Laufe des Monats Freiheiten zurückbekommen sollen, die andere derzeit nur durch negative Tests erhalten.
In Baden-Württemberg wird sich die Zahl der Impfungen kommende Woche erhöhen. Ab Montag können auch alle über 60-Jährigen einen Termin erhalten. Vergangene Woche seien deutlich mehr Impfstoffe geliefert worden, erklärte das Sozialministerium in Stuttgart. Gesundheitsminister
Manfred Lucha (Grüne) teilte am Dienstag mit, dass bei den über 80-Jährigen „bereits deutlich über 70 Prozent“eine Erstimpfung erhalten haben. „Deshalb gehen wir jetzt den nächsten Schritt und öffnen ab Montag für alle Menschen über 60 Jahren.“Bisher waren sie nur bei Vorerkrankungen oder aufgrund des Berufs impfberechtigt. Lucha rief vor allem die über 70-Jährigen zur Impfung auf, warnte aber zugleich vor einem „starken Andrang über die Website und bei der Hotline“.
Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) kündigte derweil in München an, dass die bislang gültige Priorisierung im Freistaat im Mai aufgehoben werden soll. Dann sollen unter anderem auch Betriebsärzte ihre Belegschaften impfen können, sagte Holetschek.
Einen Rückschlag gibt es unterdessen beim Vakzin des US-Herstellers Johnson & Johnson. Die Behörden in den Vereinigten Staaten haben eine vorübergehende Aussetzung der Impfungen mit dem Präparat empfohlen, nachdem bei sechs von 6,8 Millionen Geimpften Sinusvenenthrombosen erfasst wurden. Ausgesetzt wurde in der Folge am Dienstag die Markteinführung in der EU.
- Vor gut einer Woche gab das Robert-Koch-Institut (RKI) bekannt, dass vollständig gegen Corona Geimpfte bei der Verbreitung des Virus keine wesentliche Rolle spielen. Die Diskussion darüber, welche Freiheiten Geimpfte künftig bekommen sollen, nahm damit neue Fahrt auf. Die ersten Bundesländer schaffen jetzt Fakten. Unter anderem in Baden-Württemberg sollen Geimpfte künftig etwa nicht mehr in Quarantäne müssen. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Welche Regeln gelten künftig für vollständig Geimpfte?
Für Menschen, die zweimal gegen das Coronavirus geimpft wurden, sollen in Baden-Württemberg ab Montag Ausnahmen von der Quarantänepflicht und nach der Einreise aus einem Risikogebiet gelten. Es werde eine Ausnahmeregelung in die jeweiligen Verordnungen aufgenommen, wonach sich geimpfte, symptomlose Menschen künftig nicht mehr in Absonderung begeben müssen, wenn sie Kontakt zu einem Covid-19-Fall hatten, teilte das Sozialministerium mit. Gleiches gilt demnach für Einreisende aus sämtlichen Risikogebieten im Ausland. Nach der RKI-Empfehlung gilt ein Impfschutz als vollständig, wenn seit der letzten vorgeschriebenen Impfdosis 14 Tage vergangen sind. Anerkannt werden alle in der EU zugelassenen Impfstoffe.
Dürfen sich Menschen in Altenund Pflegeheimen wieder frei bewegen?
Vieles deutet darauf hin. Eine Seniorenresidenz hat sich vor Gericht bereits mehr Freiheiten erkämpft: Voraussichtlich von Mittwoch an dürfen geimpfte und genesene Bewohner des Seniorenzentrums Mühlehof in Steinen (Kreis Lörrach) wieder in ihrer Kantine zusammen essen. Einen entsprechenden Vergleichsvorschlag des Verwaltungsgerichtshofes (VGH) haben nun alle Beteiligten angenommen: das Gesundheitsministerium, das Landratsamt Lörrach und das Seniorenzentrum. Diese Regelung soll nun auf vergleichbare Einrichtungen angewandt werden, kündigte Gesundheitsminister Lucha am Dienstag an.
Sind in stationären Einrichtungen der Pflege 90 Prozent der Bewohner vollständig geimpft, können laut Sozialministerium außerdem wieder mehr Besuche ermöglicht werden. Die Hygienemaßnahmen, insbesondere die qualifizierte Maskenpflicht und die Testung vor Zutritt für Besucher, gelten aber weiter.
Sind vollständig Geimpfte und Genesene gleichberechtigt?
Genesene, deren Infektion nicht länger als ein halbes Jahr zurückliegt, werden behandelt wie vollständig Geimpfte, erklärte Südwest-Gesundheitsminister Lucha. „Man geht bei ihnen davon aus, dass ausreichend Abwehrkräfte und Antikörper da sind. Nach einem halben Jahr ist dieser Personenkreis dann aufgefordert, sich impfen zu lassen, um wieder gleichgestellt zu sein.“
Kommen noch weitere Lockerungen für Geimpfte?
Davon geht zumindest Lucha aus. „Das ist der Anfang für mehr“, sagte er am Dienstag am Rande der Regierungspressekonferenz der „Schwäbischen Zeitung“. „Es ist natürlich auch eine Motivation zum Impfen.“Details dazu, was künftig für Geimpfte etwa beim Besuch von Veranstaltungen gelten soll, nannte Lucha jedoch nicht. Es gebe noch vieles, was geklärt werden müsse. Aus Regierungskreisen hieß es, zu diesem Thema sei für nächste Woche eine Sonderministerpräsidentenkonferenz angesetzt.
In einem Schreiben an seine Länderkollegen bat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Länder und Kommunen um neue Regeln, damit Lockerungen, die bisher nur Getesteten vorbehalten waren, nun auch für Geimpfte ohne Test gelten, etwa in Einzelhandel und Kultur. Bei Einreisen aus dem Ausland sollen für komplett Geimpfte keine Tests mehr nötig sein – und auch keine Quarantäne. Ausnahme: Einreisen aus Gebieten mit besonders gefährlichen Mutationen wie Brasilien und Südafrika. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zufolge will Spahn außerdem die bisherige Testpflicht für bestimmte Berufsgruppen oder im öffentlichen Leben, also etwa beim Einkaufen oder im Theater, für Geimpfte abschaffen.
Sind Lockerungen für Geimpfte rechtlich und ethisch vertretbar?
Jan Henrik Klement, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mannheim, stellt klar, dass er die Lockerungen der Grundrechtsbeschränkungen für Geimpfte aus verfassungsrechtlicher Sicht angesichts der neuen Erkenntnisse des RKI nicht nur für vertretbar, sondern für zwingend geboten hält. „Gegen die Rückkehr zum Normalzustand der Freiheit ließe sich allenfalls vorbringen, dass es im Alltag, etwa beim Einkaufen, noch nicht möglich ist, zu kontrollieren, wer geimpft ist und wer nicht.“Dadurch könnte das Infektionsgeschehen außer Kontrolle geraten. „Da muss dann aber der Staat so schnell wie möglich Strukturen aufbauen, die solche Kontrollen ermöglichen – etwa mit einem Impfausweis.“
Franz-Josef Bormann, katholischer Moraltheologe an der Universität Tübingen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, argumentiert ähnlich: Bei Geimpften, von denen man wisse, dass sie das Virus nicht verbreiten, müsse man sehr genau schauen, was die Gründe sind, deren Rechte noch einzuschränken. „Sie sollten, soweit es möglich ist, ins normale Leben zurückkehren, was zudem einen positiven Anreiz setzen würde, sich impfen zu lassen“, erklärte Bormann.
Ist es ungerecht, dass die Freiheitsrechte nur denjenigen zurückgegeben werden, die geimpft sind?
Aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung folge nicht, dass alle unterschiedslos zu behandeln sind, erklärt Jurist Klement. Im Gegenteil: „Eine Rechtsordnung muss differenzieren, um gerecht zu sein.“Auch wer der Meinung sei, dass der Staat die Impfstoffe falsch verteile, könne die unterschiedliche Gefährlichkeit Geimpfter und Nicht-Geimpfter nicht einfach ignorieren. Möglicher Neid auf Geimpfte, die mehr machen dürfen, ist für ihn keine valide Begründung.
Dass sich noch nicht alle impfen lassen können, zählt für Moraltheologe Bormann nicht als Argument, die Grundrechte von Geimpften weiterhin einzuschränken, seit feststeht, dass sie nicht infektiös sind. Und solange Impfstoff knapp ist, sei es moralisch geboten, zuerst die Vulnerabelsten dranzunehmen. Den Hinweis auf Gleichbehandlung hält er für fadenscheinig. „Ich habe als Nicht-Geimpfter doch keinen Gewinn, wenn andere in ihren Freiheiten eingeschränkt werden.“Es stelle auch kein Problem dar, wenn beispielsweise private Veranstalter nur Geimpften Zugang gewähren würden. „Anders sähe es bei zentralen Dienstleistungen wie der Beförderungspflicht aus.“