Trauer um 80 000 Corona-Tote
Steinmeier mahnt Mitmenschlichkeit an – Schärfere Regeln für Hotspots im Südwesten
BERLIN/STUTTGART (dpa) - Gut ein Jahr nach dem Beginn der CoronaPandemie haben die Spitzen des deutschen Staates und die Kirchen der fast 80 000 Toten gedacht und den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl bekundet. Bei der zentralen Gedenkfeier in Berlin rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zudem die Gesellschaft zum Zusammenhalt auf.
Neben der Trauer gebe es bei manchen Menschen zwar auch „Verbitterung und Wut“, sagte das Staatsoberhaupt. Er könne dies verstehen. „Die Politik musste schwierige, manchmal tragische Entscheidungen treffen, um eine noch größere
Katastrophe zu verhindern.“Auch die Politik habe lernen müssen. Wo es Fehler gegeben habe, müssten diese aufgearbeitet werden.
Besonders umstritten ist aktuell die von der Bundesregierung geplante Notbremse für Landkreise mit besonders hohen Infektionszahlen. Mehrere Minister verteidigten am Wochenende die heftig kritisierten Pläne für Ausgangsbeschränkungen zwischen 21 und 5 Uhr. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sagte, man wolle sich das Vorhaben nicht wieder „zerreden“lassen. Bundestag und Bundesrat wollen in den nächsten Tagen darüber entscheiden. Kritiker drohen bereits mit dem Gang vors Bundesverfassungsgericht.
Die Notbremse soll auf Bundesebene verankert werden, weil die Länder vereinbarte Maßnahmen gegen die dritte Corona-Welle uneinheitlich umsetzten und die Infektionslage zugleich mehr und mehr außer Kontrolle gerät. Baden-Württemberg wollte nun nicht mehr warten, bis der Entwurf im Bund beschlossen ist, und hat die Notbremse schon in die neue Corona-Verordnung eingearbeitet.
So gelten bereits ab Montag schärfere Regeln für Kreise, in denen die Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 liegt.
Nach den jüngsten Zahlen des Landesgesundheitsamts in Stuttgart gilt das nur noch für fünf Stadt- und Landkreise. Darüber liegen 39 Kreise, davon 13 sogar über 200. Dort soll es grundsätzlich zunächst nur noch Fernunterricht geben. Kitas dürfen nur noch eine Notbetreuung anbieten.
Bayern hält derweil an den bereits geltenden Regeln für besonders betroffene Gebiete fest. Diese sind mittlerweile in nahezu allen Stadtund Landkreisen im Freistaat in Kraft, auch in Lindau.
BERLIN - Das Letzte, was Anita Schedel von ihrem Mann hörte, war, dass sie sich keine Sorgen machen solle. Er werde jetzt ins künstliche Koma versetzt, sagte er ihr am Telefon im Krankenhaus. „Ich bin in den besten Händen, du kannst mich bald wieder abholen. Ich freue mich auf dich.“
Nach acht Tagen Bangen und Hoffen sagten ihr die Ärzte, dass sie nichts mehr für ihren Mann tun könnten. Sie durfte noch einmal zu ihm auf die Intensivstation. „Bis heute begleiten mich die Bilder von dem einsamen, langen Klinikflur, von den blinkenden und piepsenden Geräten und Schläuchen und Maschinen, und mittendrin – mein Hannes, gezeichnet vom Virus.“Hannes Schedel, selbst Arzt und Klinikbetreiber aus Passau in Niederbayern, starb am 14. April des vergangenen Jahres an Covid-19. Er wurde 59 Jahre alt.
An diesem Sonntag steht seine Witwe in Berlin an einem Rednerpult im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Sie schildert mit brüchiger Stimme, dass sie ihrem sterbenden Mann noch die Hand drücken konnte. Sie sei dem Klinikum dafür sehr dankbar. „Mein Mann hat sein Leben verloren. Ich bin ins Nichts gefallen. Aber ich habe noch ein Leben. Es ist ganz anders als vorher. Es war nicht meine freie Entscheidung.“Auch Anita Schedel war an Covid-19 erkrankt. Sie überlebte, Hannes Schedel nicht.
Die 57-Jährige spricht an diesem Tag bei der zentralen Gedenkveranstaltung für die Toten in der CoronaPandemie. Die Spitzen der Verfassungsorgane sind anwesend – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerin Angela Merkel, die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht. An vielen anderen Orten der Republik wird an diesem Tag in kleineren Veranstaltungen ebenfalls der Toten gedacht.
Rund 80 000 Menschen starben hierzulande bislang mit dem oder durch das Coronavirus. Etliche weitere, die seit Beginn der Pandemie aus ganz andere Gründen ihr Leben verloren, mussten einsam sterben – weil ihre Nächsten in den letzten Stunden nicht bei ihnen sein durften.
Um all diese Menschen und die Trauer der Angehörigen geht es an diesem Sonntag in Berlin. Neben Anita Schedel ergreifen drei weitere Betroffene das Wort und schildern, was für ein Mensch ihr verstorbener Angehöriger war und unter welchen Umständen sein Leben endete. Sie tun das stellvertretend für alle Opfer und alle Hinterbliebenen.
Da ist eine Frau mit türkischen Wurzeln, deren Vater einst als Gastarbeiter nach Deutschland kam und mit 67 Jahren dem Virus erlag. Ein Mann berichtet von seiner Mutter, die mit 80 Jahren dement im Pflegeheim an Covid-19 starb. Eine junge Frau spricht über ihren lebenslustigen Vater, der mit 53 Jahren im Krankenhaus den Kampf gegen den Blutkrebs
verlor – und aufgrund der Pandemie seine Familie nicht noch einmal sehen konnte. Anwesend ist auch eine Frau, deren 23-jährige behinderte Tochter an Corona starb. Schwarz-Weiß-Fotos der Verstorbenen werden auf große Bildschirme projiziert. Später kommen noch Bilder vieler weiterer Opfer hinzu.
Es ist eine würdige, ergreifende Veranstaltung unter Bedingungen der Pandemie. Die Teilnehmer im Konzerthaus tragen Masken und sitzen in einem Oval mit Sicherheitsabstand zueinander. Die Hinterbliebenen durften jeweils noch einen Begleiter mitbringen. Neben den Repräsentanten des Staates ist der
Apostolische Nuntius anwesend, außerdem Berlins Regierender Bürgermeister. Zudem sind Musiker des Konzerthausorchesters Berlin im riesigen Saal. Weitere Gäste sind nicht zugelassen. Das Fernsehen überträgt die Veranstaltung.
Seit etwas mehr als einem Jahr beherrscht Corona das Leben im Land, und das Sterben auch. Die Idee, einen Gedenkakt für die Opfer zu veranstalten, hatte Bundespräsident Steinmeier bereits im vergangenen September vorgebracht. Damals hatte das Land die erste Welle hinter sich und einen recht unbeschwerten Sommer erlebt. Rund zehntausend Corona-Tote gab es bis dahin, viel weniger als in anderen europäischen Ländern. Die Zahl der Neuinfektionen war niedrig. Hierzulande sah es so aus, als sei man aus dem Gröbsten raus und könne sich bald wieder anderen Dingen zuwenden.
Das Thema ließ Steinmeier gleichwohl nicht los. Er habe im Herbst zahlreiche beeindruckende Kontakte mit Bürgern gehabt, berichten Mitarbeiter. Unter anderem traf er sich mit Covid-19-Genesenen. Ende 2020 dann rollte die zweite Welle mit voller Wucht übers Land. Es gab bis zu 1000 Todesfällen täglich. Im vergangenen Monat traf sich der Präsident mit Hinterbliebenen von Corona-Toten, auch das hat ihn nachhaltig beeindruckt. Die Pandemie ist noch lange nicht vorbei, Deutschland steckt mitten in der dritten Welle. Insofern kann der Staat mit einer Gedenkfeier dieser Art keinen Schlusspunkt setzen. Gleichwohl kam Steinmeier im Laufe der Zeit zur Überzeugung, dass das Land einen Moment des Innehaltens brauche. Einen Moment, der die Verstorbenen und ihre Geschichten in Erinnerung ruft und in dem der Staat den Hinterbliebenen sein Mitgefühl ausdrückt. Und der vielleicht dazu dienen kann, den Zusammenhalt im aufgewühlten Land zu festigen.
Am Sonntag sagt der Bundespräsident: „Seit dem Beginn der Katastrophe blicken wir täglich wie gebannt auf Infektionsraten und Todeszahlen, verfolgen Kurvenverläufe, vergleichen und bewerten.“Das sei verständlich. Aber sein Eindruck sei, dass sich die Gesellschaft nicht oft genug bewusst mache, dass hinter all den Zahlen Schicksale und Menschen stehen. Ihr Leiden und ihr Sterben seien oft unsichtbar geblieben. „Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen.“
Die Verstorbenen fehlten, sagt Steinmeier. „Sie alle kommen nicht zurück – aber sie bleiben in unserer Erinnerung. Wir vergessen sie nicht.“In Richtung aller Hinterbliebenen sagt der Präsident: „Es gibt keine Worte für Ihren Schmerz. Aber wir hören Ihre Klage. Wir verstehen Ihre Bitterkeit.“
In der Mitte des Saales stehen mit Blumen dekorierte Stelen. Jeweils ein Repräsentant der Verfassungsorgane begleitet einen anwesenden Angehörigen dorthin. Gemeinsam stellen sie Kerzen ab. Das soll symbolisieren: Der Staat begleitet die Hinterbliebenen in ihrer Trauer.
Steinmeier sagt in seiner Ansprache auch, die Pandemie zeige in allen Teilen des Landes, wie viel Gemeinsinn und Mitgefühl in der Gesellschaft steckten. „Diese Mitmenschlichkeit, sie ist ein Lichtblick in dunkler Zeit.“Jetzt gehe es darum, trotz Wut und Schmerz und Leid noch einmal Kraft zu sammeln für den Weg nach vorn, den Weg heraus aus der Krise: „Lassen wir nicht zu, dass die Pandemie, die uns schon als Menschen auf Abstand zwingt, uns auch noch als Gesellschaft auseinandertreibt!“