Heuberger Bote

Wie Corona in die Literatur findet

Aktuelle Romane spiegeln das Zeitgesche­hen – Die Belletrist­ik meidet das Thema eher

- Von Christine Cornelius

Die Corona-Zeit verändert auch die deutschspr­achige Literatur. Schriftste­llerinnen und Schriftste­llern bieten diese Monate der Unsicherhe­it und des Wandels viel Stoff. Manchmal können sie gar nicht anders, als ihre Figuren auch mit der Pandemie zu konfrontie­ren. Längst sind erste Corona-Romane erschienen, Verlage registrier­en Veränderun­gen bei eingereich­ten Manuskript­en.

„Literatur ist ja immer auch eine Möglichkei­t, sich mit der Welt, wie sie so ist, auseinande­rzusetzen, und da unsere Welt jetzt schon viele Monate so virusbesti­mmt ist, bahnt sich die Pandemie mehr oder weniger direkt ihre Wege in die verschiede­nen Texte“, sagt die Verlagslei­terin Belletrist­ik bei Ullstein, Diana Stübs. Sie beobachtet dabei zwei Ausprägung­en: „Zum einen Manuskript­e, die sich vor der Gegenwart zurückzieh­en, also zum Beispiel historisch­e Stoffe zum Gegenstand haben oder sich nach innen wenden. Und jene, die eine Welt herbeifabu­lieren, wie sie einmal wird. Vielleicht.“

Manche Verlage hätten das Glück gehabt, einen passenden Titel im Repertoire zu haben, sagt der Programmle­iter Rowohlt Hundert Augen, Marcus Gärtner. Für Rowohlt sei „Die Pest“von Albert Camus zum unerwartet­en Bestseller über Monate hinweg geworden.

Autorin Juli Zeh sagt in einem Interview des Luchterhan­d Verlags, sie habe die erste Fassung ihres aktuellen Buches „Über Menschen“schon geschriebe­n gehabt, als sich die Pandemie ausgebreit­et habe. „Für mich war es ausgeschlo­ssen, an dem Text weiterzuar­beiten, ohne darauf zu reagieren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschriebe­n und die aktuellen Ereignisse mit einfließen lassen.“Es sei zwar einerseits ein Wagnis gewesen, so nah an den täglichen Entwicklun­gen zu schreiben. Gleichzeit­ig sah sie es als Möglichkei­t, „Dinge zu verarbeite­n, die für uns alle schwer und belastend sind“.

Zeh lässt ihre Figur Dora während der Corona-Pandemie von der

Stadt aufs Land flüchten. Wenn Dora wegen der vielen neuen Begriffe wie Social Distancing, exponentie­lles Wachstum, Übersterbl­ichkeit und Spuckschut­zscheibe der Kopf schwirrt, dann wissen die Leserinnen und Leser, wie es ihr geht. Sie kennen das Staunen, die Irritation, die Sorge, das Unbehagen, die Überforder­ung – und werden so automatisc­h selbst zum Teil der Geschichte.

Auch Lektorin Silvia Zanovello vom Diogenes Verlag sieht bei den Autorinnen und Autoren das Bedürfnis,

die Pandemie inhaltlich zu verarbeite­n. „Es wird wohl noch lange ein Thema bleiben. Viele Autoren sprechen aber von einer längerfris­tigen Verarbeitu­ng des Themas. Viele auch davon, dass es eine gewisse Distanz braucht, um die Wirkung auf die Gesellscha­ft überhaupt künstleris­ch erfassen zu können.“Die Menschen greifen in der Corona-Zeit allerdings auch sehr gern zu thematisch anderer Lektüre. „Das Thema Pandemie ist im Moment wohl nicht so gesucht in der Belletrist­ik“,

heißt es von der DiogenesLe­ktorin. Programmle­iter Gärtner (Rowohlt Hundert Augen) sieht bei der Leserschaf­t einen Boom eskapistis­cher Lektüren und Versenkung in zeitlose Themen.

Ein Beispiel aktueller Corona-Literatur ist Thea Dorns Erzählung „Trost. Briefe an Max“(Penguin Verlag), in der sich die Zerrissenh­eit und Widersprüc­hlichkeit vieler Menschen widerspieg­elt. Ihre Figur Johanna verliert in den Anfängen der Pandemie ihre lebensfroh­e, unvernünft­ig handelnde Mutter an das Virus. Nach einer trostlosen Beerdigung unter Auflagen der Behörden feiert sie dann selbst ohne Rücksicht auf Verluste, teils aus Verzweiflu­ng, teils aus kindlich anmutendem Trotz. Der harte Kern der Gäste liegt sich am Ende volltrunke­n und singend auf einem Balkon in den Armen. Hinterher spricht Johanna in einem Brief an ihren alten philosophi­schen Lehrer Max von Selbstbetr­ug und Betäubung.

Das reizvolle Gefühl, brandaktue­lle Dokumente der Zeitgeschi­chte vor sich zu haben, geht einher mit einer gewissen Unzufriede­nheit: Man steckt als Leserin oder Leser selbst noch mittendrin in den Problemen der Figuren und ahnt beim Lesen: Weder Juli Zeh noch Thea Dorn haben eine befriedige­nde Lösung auf dem Tisch. Ihre Figuren irren genauso planlos durch die Pandemiewe­lt wie die Leserschaf­t, in Mechanisme­n der Verdrängun­g, des Annehmens oder der scheinbare­n Gleichgült­igkeit. Allen gemeinsam ist aber ein großes Fragezeich­en.

Welche Spuren die Corona-Zeit langfristi­g in der deutschspr­achigen Literatur hinterläss­t, wird sich zeigen. Stübs vom Ullstein-Verlag sagt: „Es fällt mir sehr schwer, einzuschät­zen, ob diese Pandemie so prägend sein wird wie zum Beispiel die Wende oder ob sie, wenn das, was wir ,Normalität’ nennen, irgendwann wieder Einzug gehalten haben wird, schnell vergessen sein wird.“Sie gehe aber davon aus, dass einige Verhaltens­weisen wie notorische­s Abstandhal­ten noch sehr lange bleiben werden – „und damit auch in Texte einwandern“. (dpa)

 ?? FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA ?? Seit dem Frühjahr 2020 fühlt es sich oft an, als sei man selbst in einem Roman gelandet – dessen Ende noch offen ist. Autorinnen und Autoren verarbeite­n die Pandemie schreibend, doch nicht alle Menschen wollen Romane über Corona lesen.
FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Seit dem Frühjahr 2020 fühlt es sich oft an, als sei man selbst in einem Roman gelandet – dessen Ende noch offen ist. Autorinnen und Autoren verarbeite­n die Pandemie schreibend, doch nicht alle Menschen wollen Romane über Corona lesen.

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