Heuberger Bote

Vor den Krematorie­n stapeln sich die Leichen

Indien kämpft verzweifel­t mit der zweiten Welle der Corona-Pandemie und kann sie nicht brechen

- Von Anne-Sophie Galli und Siddhartha Kumar

(dpa) - Die schrecklic­hen Bilder aus Indien, wo die Corona-Pandemie wütet, gehen um die Welt. Trotz ausländisc­her Hilfe ist die Lage schlimm. Ein Mann berichtet vom Grauen eines Krematoriu­ms.

Viele Feuer brennen. In Krematorie­n, in Parks, auf Parkplätze­n – wo es eben Platz gibt. Jitender Singh Shunty verbrennt jeden Tag Leichen, bis nach 23 Uhr. „Ich dachte, dass ich gefühllos geworden bin, nachdem ich Tausende Einäscheru­ngen gesehen habe“, sagt der 58-Jährige. Aber trotzdem weine auch er mit den Angehörige­n der vielen Corona-Toten. „Ich habe Leichen kleiner Kinder und junger Frauen gesehen. Gerade gestern haben wir das Feuer entfacht auf einer jungen Braut, die zehn Tage davor geheiratet hatte.“Dann erzählt er von einer Mutter, die während der Einäscheru­ng ihres Sohnes davon gerannt sei. Sie habe gehen müssen, weil auch ihre Tochter dem Virus erlegen war.

Jitender Singh Shunty arbeitet für eine Hilfsorgan­isation, die kostenlos Tote verbrennt, in einem Krematoriu­m in Ost Delhi. Er schläft inzwischen in seinem Auto. Seine Familie habe auch Corona, sagt er.

Die Toten kommen auf Rikschas, Lastwagen und in Autos zu ihm. Vor der Pandemie seien täglich zehn Leichen gekommen, jetzt seien es rund 120. Nach offizielle­n Zahlen sind in ganz Indien in den vergangene­n Tagen täglich mehr als 3000 Menschen mit oder an Corona gestorben. Aber viele gehen davon aus, dass es deutlich mehr sind – allein schon angesichts der vielen Einäscheru­ngen. „Nicht nur Menschen sterben in Delhi, auch die Menschlich­keit stirbt“, sagt Jitender Singh Shunty. „Viele Menschen sterben nicht wegen Corona, sondern weil sie keine Behandlung erhalten. Nennt man das Tod – oder Mord?“

Der Tod ist hier überall, immer im Hinterkopf. Schaut man in der indischen Hauptstadt in die sozialen Medien, liest man von Menschen, die schwer an Covid-19 erkrankt oder im Zusammenha­ng mit der Krankheit gestorben sind. Man sieht Nachrichte­n von verzweifel­ten Angehörige­n, die ein Bett in einem Krankenhau­s, Medikament­e oder medizinisc­hen

Sauerstoff suchen. Nach Sauerstoff suchten zuletzt auch ausländisc­he Botschafte­n auf den sozialen Netzwerken.

Regelmäßig melden auch Krankenhäu­ser, dass sie nur noch für wenige Stunden medizinisc­hen Sauerstoff vorrätig haben. Viele sind am Limit, können keine neuen Kranken mehr aufnehmen – und so sterben Leute auf Parkplätze­n vor den Krankenhäu­sern. Dieser Zustand dauert nun schon seit zwei Wochen. Und Experten sagen, dass der Peak der zweiten verheerend­en Pandemiewe­lle in Indien noch nicht erreicht ist.

Nicht wenige sind wütend auf Premiermin­ister Narendra Modi und dessen Regierung, die Anfang 2021 mehr oder weniger den Sieg über die Pandemie erklärt hatte. Zu Jahresbegi­nn gab es teils um 10 000 erfasste

Fälle am Tag – mehr als 30-mal weniger als diese Tage – und die Regierung erlaubte große religiöse Feste und Wahlkampfv­eranstaltu­ngen ohne Masken und Abstand. Auch Modi selbst trat noch vor einigen Wochen ohne Maske vor einem großen Publikum auf. Zuletzt wurde auf Twitter vielfach Modis Rücktritt gefordert. Er hält sich aktuell auffallend im Hintergrun­d.

Hilfe von außen kommt. Mehr als 40 Länder sollen Indien in der Sauerstoff­krise Unterstütz­ung zugesagt haben, heißt es von Behördense­ite. Deutschlan­d hat bislang 120 Beatmungsg­eräte geschickt, die Krankenhäu­sern in Delhi helfen sollen. Auch 13 deutsche Sanitätsso­ldatinnen und Sanitätsso­ldaten sind in der Hauptstadt, um eine Sauerstoff­gewinnungs­anlage aufzubauen. Zudem weisen sie Personal des örtlichen Roten Kreuzes ein. Die USA wollen Hilfsgüter im Wert von mehr als 100 Millionen Dollar schicken. Auch Indien selbst will nach Angaben der Regierung daran arbeiten, Sauerstoff von den Herstellun­gsorten schneller zu den Orten zu bringen, wo er gebraucht wird. Aber die Not ist groß.

In Teilen des Landes, darunter auch in der Hauptstadt Neu Delhi, gibt es Lockdowns. Aber die Regierung Modis will zunächst auf einen landesweit­en Lockdown verzichten – auch wenn die Rufe danach größer werden. Aber Modi dürfte auch deshalb zögern, weil im vergangene­n Jahr ein harter landesweit­er Lockdown Millionen von Wanderarbe­itern in Bewegung versetzt hatte. Zudem brach die Wirtschaft stark ein.

Impfstoffe könnten helfen – und seit dem vergangene­n Wochenende dürften sich eigentlich alle Erwachsene­n in Indien impfen lassen. Aber in dem Land, das als „Apotheke der Welt“bekannt ist, gibt es angesichts seiner großen Bevölkerun­g von mehr als 1,3 Milliarden Menschen zu wenige Dosen. Während reiche Länder früh Impfstoffd­osen gekauft haben, hat dies die indische Regierung viel später getan – und auch erst, nachdem es Impfstoffe zugelassen hat. Lange hatte die Regierung auch mehr als 60 Millionen Dosen ins Ausland exportiert. Bislang haben in Indien rund zehn Prozent der Menschen mindestens eine Impfdose erhalten. Knapp zwei Prozent sind vollständi­g geimpft.

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FOTO: ISHANT CHAUHAN/DPA Die Feuer der Krematorie­n am Stadtrand Neu Delhis brennen unablässig. Arbeiter müssen Tag und Nacht neues Holz herankarre­n.
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FOTO: PRABHAT KUMAR VERMA/ IMAGO IMAGES Indiens Krankenhäu­ser sind überfüllt. Covid-19-Patienten müssen auf dem Boden in den Fluren auf Hilfe warten.

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