„Lage durch Corona drastisch verschärft“
Jugendarbeiter Florian Riess erläutert die Sicht der Jugendlichen in der Innenstadt
- Jugendliche, die trotz Corona in Gruppen in der Innenstadt zusammenstehen, laut sind, Müll verursachen, Anwohner belästigen und beleidigen. So schildern Geschäftsleute und Anwohner die Situation, der sie sich seit Wochen ausgesetzt sehen. Florian Riess ist Jugendarbeiter der Stadt Tuttlingen und mit den jungen Leuten im Gespräch. Mit Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt er sich über das, was die Jugendlichen sagen und über seine Meinung zu diesem Konflikt.
Herr Riess – wie nehmen Sie die Situation wahr, die sich vor allem im Bereich Müller-Markt und Stadtkirche abspielen soll?
Mein Grundgedanke war, als ich den Artikel im Gränzboten gelesen habe, dass es immer mehrere Seiten gibt. Man sollte sich auch bei so einer Situation fragen, was dahinter steckt und dabei unterscheiden: Was kann und muss ich als Anwohner tolerieren? Was am Verhalten der Jugendlichen ist tatsächlich kriminell? Wie nehme ich es wahr und wie reagiere ich darauf? Dabei kommen wir als Jugendarbeiter ins Spiel, denn wir fragen uns, wo wir anknüpfen können. Was sind die Bedürfnisse der Jugendlichen und wo kollidieren diese vielleicht mit den Bedürfnissen der anderen? Wir bringen deren Sichtweise den Anwohnern und Erwachsenen näher, andersherum aber genauso.
Was müssen die Anwohner und Geschäftsleute aus Ihrer Sicht tolerieren?
Ich war in letzter Zeit vermehrt draußen, zudem wurden die Streetworkgänge in diesem Bereich insgesamt ausgedehnt, und wir haben uns die Situation rund um die Stadtkirche angeschaut. Dabei haben wir beobachtet, dass sich dort um die zehn bis 15 Jugendliche aufhalten, dort auch mal Ball spielen, sich unterhalten und Zeit verbringen.
Sind das immer die gleichen oder gibt es mehrere Gruppen?
Es handelt sich um Jugendliche ab zwölf, 13 Jahren bis hin zu jungen Erwachsenen. Immer wieder werden auch Autoposer erwähnt, die sind ja in der Regel über 18. Die kennen sich untereinander alle, aber ob die intensiver miteinander zu tun haben, kann ich nicht sagen. Aus meiner Sicht sind es eher mehrere kleine Gruppen, die als eine wirken könnten.
Bei allem Verständnis für die jungen Leute: Könnten die sich nicht auch irgendwo anders treffen?
Das haben wir in unseren Gesprächen auch schon nachgefragt, warum trefft ihr euch in der Innenstadt, warum an der Kirche? Aber jeder kann sich seinen Ort frei aussuchen. Es gefällt ihnen dort, sagen sie, es hat urbanen Flair, es geht wohl auch darum, gesehen zu werden. Wir haben auch gezielt angesprochen, dass es Parks gibt und das Umläufle. Das ist für sie offenbar nicht attraktiv. Das muss jeder für sich entscheiden, allerdings natürlich auch darauf achten, andere nicht zu sehr zu beeinträchtigen.
Vermitteln Sie bei den Gesprächen mit den Jugendlichen, dass ihre Anwesenheit andere Menschen stört?
Ja, natürlich vermitteln wir das. Wir konfrontieren sie auch mit den Vorwürfen, zum Beispiel, dass sie andere beleidigen. Wir haben ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihnen, so dass wir mit ihnen offen darüber reden können. Wir fragen dabei auch nach, wie die Sicht der Jugendlichen ist. Nach Erscheinen des Artikels wollten wir zum Beispiel wissen, ob sie irgendeinen Grund geliefert haben könnten, warum die Anwohner sich beschweren. Konsens war, dass sie Ball spielen, dabei manchmal auch zu stark drauf hauen. Wichtig ist aber auch, dass man das Thema differenziert betrachtet und nicht zu stark dramatisiert. Als ich mich am Dienstag dort umgeschaut habe, fand ich zum Beispiel die Müllsituation nicht so schlimm, eher sogar verhältnismäßig ordentlich. Und wenn es mal schlimmer aussieht, muss man nachhaken, wo der Müll herkommt. Es müssen ja nicht automatisch die Jugendlichen die Verursacher sein.
Es gibt Handyvideos von Anwohnern, die der Redaktion vorliegen, die mehr zeigen, als nur Ball spielen. Pöbeleien, Geschrei, Aggression, Geschubse. Würde es etwas bringen, wenn solche Fotos und Videos an die Jugendarbeiter weitergeleitet werden?
Nein, das möchten wir nicht. Es ist immer wieder Thema bei den Jugendlichen, dass Fotos von ihnen gemacht wurden. Wir wollen aber nicht irgendwelche Beweismaterialien bekommen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass wir sie überwachen. Man darf die Rollen hier nicht verwechseln. Als Jugendarbeiter sind wir keine Polizei, die Beweise sammelt und Vergehen ahndet. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, durch hartes Eingreifen Probleme zu bekämpfen, sondern eine Vertrauensbasis aufzubauen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das ist eine ganz fragile Sache. Aber wenn Anwohner und Geschäftsleute auf uns zukommen und darum bitten, eine gemeinsame Gesprächsbasis herzustellen, dann sind wir dazu natürlich bereit, auch im Interesse der Jugendlichen.
Ein offensichtliches Problem ergibt sich allein schon dadurch, wenn bis zu 15 Jugendliche zusammenstehen, aber laut der Coronaregeln derzeit nur Zusammenkünfte mit maximal einer Person eines weiteren Haushalts erlaubt sind.
Ja, das stimmt. Die Jugendlichen wissen, dass sie dafür geradestehen müssen, wenn sie ein Bußgeld wegen einer Ordnungswidrigkeit bekommen. Da, wo ein Verstoß geschieht, müssen sie sich stellen. Auch wir weisen darauf hin, wenn sie zu viele sind und zu dicht beieinander stehen. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, sie mit Druckmitteln auseinanderzutreiben. Sie treffen eigene Entscheidungen, und für die müssen sie gerade stehen.
Sie sprechen mit den Jugendlichen auch über deren Probleme. Welche sind das und sind es durch Corona mehr geworden?
Durch Corona sind andere Problemlagen aufgetaucht. Für viele, die davor schon in schwierigen Situationen waren, hat sich durch Corona die Lage drastisch verschärft, deutlich stärker als bei vielen anderen Jugendlichen. Einer sagte mir: „Ich halte es drinnen nicht mehr aus und verspüre eine innere Unruhe.“Das so äußern zu können, finde ich beeindruckend, das hat einiges bei uns bewegt. Ein anderer sagte, dass er die Einschränkungen vergangenes Jahr noch verstanden habe und zu Hause geblieben sei. Aber jetzt halte er es einfach nicht mehr aus. Das kann jeder mitfühlen, wenn er versucht, sich in das Alter der jungen Menschen hineinzuversetzen. Für sie ist das Thema Corona sicherlich noch viel schwerer zu ertragen und zu verstehen. Es sind Ängste und Frust da, vor allem mit Blick auf die Corona-Maßnahmen. Wir Jugendarbeiter versuchen, Aufklärungsarbeit auch zum Thema Corona selber und den Gefahren der Krankheit zu leisten und aufzuzeigen, was sich hinter kryptischen Zahlen wie den Inzidenzwerten verbirgt.
Etliche Reaktionen von Bürgern gab es zu dem Thema, dass die Polizei oder der KOD die Gruppen sehen, aber daran vorbeifahren. Gibt es eine Absprache zwischen den Jugendarbeitern und der Polizei, mit der Bitte, sich da eher zurückzuhalten?
Nein. Wir sind im engen Austausch mit dem Ordnungsamt und der Polizei, insbesondere mit Jukop, der Kooperationseinheit von Polizei und Jugendamt. Es gibt eine große Präsenz seitens der Polizei in der Innenstadt. Dabei gibt es eine klare Aufgabenteilung. Aufgabe von Polizei und Ordnungsamt ist es unter anderem, Verstöße zu ahnden und Anzeigen nachzugehen. Unsere Aufgabe ist es, über persönliche Kontakte mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Alle Institutionen zeigen in der Innenstadt intensiv Präsenz, ich persönlich bin der Meinung, dass Polizei und KOD einen guten Job machen. Und ja, wenn es keine Anhaltspunkte für die Polizei gibt, einzugreifen, dann wird das auch nicht getan. Ich habe aber auch schon erfahren, dass Jukop die Jugendlichen angesprochen hat, um deren Sicht der Dinge zu erfragen und in einen Dialog zu kommen. Mitunter fällt bei Bedarf dann auch der Hinweis, dass die Maske etwas höher sitzen sollte. Das machen die dann auch.
Außer Ihnen – welche Jugendarbeiter sind sonst noch im Einsatz?
Wir sind 15 Mitarbeiter in der Abteilung und haben 250 Prozent Offene und Mobile Jugendarbeit. Dazu gehören die Streetworkgänge in der Innenstadt. Wir arbeiten lebensweltorientiert, dazu gehört unter anderem, dass auch die Schulsozialarbeiter draußen unterwegs sind, um junge Menschen in deren Lebensräumen aufzusuchen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation werden auch gezielt mehr Kollegen in der Innenstadt unterwegs sein, so dass wir größere Zeiträume abdecken können.
Was ist Ihre Botschaft an die Anwohner? Ich höre heraus, dass sich an der Situation in der Innenstadt nichts ändern wird und sie lernen müssen, damit umzugehen.
Nein. Gemeinsam mit Polizei, Jukop und Ordnungsamt arbeiten wir daran, die Konflikte abzubauen – jeder mit seinen Mitteln und jeder mit seinen Möglichkeiten. Unser Part ist es, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Da, wo Verstöße stattfinden, wird entsprechend gehandelt, die Präsenz der Polizei hat ja auch schon zugenommen. Wenn aber keine Verstöße da sind, hat jeder das Recht, sich dort aufzuhalten, wo er das gerne möchte.