Tuttlinger wagen den Selbsttest: Wie grün leben sie?
Bei der Landtagswahl holten die Grünen in der Stadt die Mehrheit – Wie das zum Lebensstil der Tuttlinger passt
- Von einem historischen Urteil war die Rede, als das Bundesverfassungsgericht jüngst bekanntgab: Die Bundesregierung muss beim Klimaschutz deutlich nachbessern. Spitzenpolitiker und Aktivisten reagieren positiv. Und auch in Tuttlingen dürfte der Beschluss viele Unterstützer gefunden haben – wählte die Stadt bei den Landtagswahlen doch mehrheitlich grün. Aber mal abgesehen vom Kreuzchen auf dem Wahlzettel: Wie viel tragen die Tuttlinger aktiv zum Klimaschutz bei? Wie grün leben sie? Eine Seniorin und eine Familie haben den Praxistest gemacht.
Karin Thust ist Rentnerin, kauft bevorzugt regional und hat das letzte Mal am 23. Dezember getankt, als sie sich im April auf den Selbsttest einlässt. Sie sagt: „Ich denke, ich lebe schon ziemlich klimabewusst. Was möglich ist, mache ich zu Fuß.“
Martina Gratzer und ihr Mann Jerome geben sich vorab ein wenig selbstkritischer. „Wir sind schon umweltbewusst, würde ich sagen. Aber es hapert bei der Umsetzung“, bekennt Jerome Gratzer. So könnten sie nur schwer auf das Auto verzichten. Trotzdem werden das Paar und ihre beiden Kinder Lijan und Ben am Ende deutlich besser abschneiden als die Seniorin.
Vor der Auflösung aber noch ein bisschen Hintergrund. Was bedeutet es überhaupt, grün zu leben? Bis 2050 will die Bundesregierung klimaneutral sein – also nicht mehr CO2 ausstoßen, als wir in Deutschland binden können. Nach jüngsten Plänen der Bundesumweltministerin könnte dieses Ziel bald sogar auf das Jahr 2045 vorverlegt werden. Deutschland verfolgt das Ziel, die globale Erwärmung bestenfalls auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Um messbar zu machen, wie das gelingen kann, haben Wissenschaftler
sogenannte Klima-Budgets berechnet. Also die Menge an CO2Emissionen, die noch freigesetzt werden dürfen, um das Klimaziel einzuhalten. Die Höhe des Budgets ist von Land zu Land unterschiedlich und hängt in der Regel von seiner Bevölkerungszahl ab. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen ermittelte für Deutschland, dass uns ab dem Jahr 2020 noch 4,2 Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid zur Verfügung stehen. Pro Kopf müssten Emissionen laut Weltklimarat auf 1,5 Tonnen pro Jahr begrenzt werden, das Umweltbundesamt spricht langfristig von weniger als einer Tonne pro Person und Jahr.
Im Vergleich dazu ist der aktuelle Richtwert des Projekts „Ein guter Tag hat 100 Punkte“großzügig. Dahinter steckt Das Institut Kairos aus Bregenz für Wirkungsforschung und Entwicklung. Es sieht ein Klimabudget von 2,5 Tonnen CO2 pro Mensch und Jahr vor – das sind pro Tag rund 6,8 Kilogramm. Kairos stellt ein Programm zur Verfügung, mit dem sich Emissionen für einzelne Konsumgüter, Nahrungs- oder Fortbewegungsmittel und sonstige Tagesaktivitäten berechnen lassen. 100 Punkte entsprechen dabei dem Tagesrichtwert von 6,8 Kilogramm.
Karin Thust verbraucht laut Punkterechner an einem durchschnittlichen Tag rund drei Mal so viel. Wäre ihre Heizung nicht, würde sie das 100-Punkte-Ziel aber nur knapp verfehlen – ganz genau um fünf Punkte. Das Problem: Die Heizung schluckt Öl, rund 1600 Liter pro Jahr. Der fossile Brennstoff setzt besonders viel Kohlenstoffdioxid frei.
Was bei Karin Thust die Heizung, ist bei den Gratzers das Auto. Alle paar Jahre kommt ein neuer Firmenwagen. Aber je kürzer die Nutzung eines Fahrzeugs, desto schlechter die Umweltbilanz. Und auch der Kleinwagen von Martina Gratzer füllt das Punktekonto jeden Tag mit rund 17 Punkten – obwohl der Motor inzwischen kaum noch läuft. Das liegt vor allem daran, dass in die Klimabilanz auch Emissionen aus Produktion und Entsorgung von Autos und anderen Konsumgütern miteinfließen.
Was bei allen genau gleich berechnet wird: Der Wert für den öffentlichen Konsum. Damit gemeint ist der staatliche Verbrauch. Also die Emissionen, die etwa durch die Hausmüll- oder Abwasserentsorgung oder den Verkehrsbetrieb anfallen. Pro Person entspricht das 29 Punkten.
Im Promillebereich dagegen liegen Werte für Kleidungsstücke – Zumindest in ein paar Stichproben. Karin Thust erzählt von ihren 15 Jahre alten Wanderschuhen, Martina Gratzer von T-Shirts, die sie und ihr Mann vor acht Jahren auf ihrer Hochzeitsreise gekauft hätten und die sie immer noch trügen. Dennoch gestehen beide Frauen ein, eine
Schwäche für Mode zu besitzen und sich gerne neue Teile zu kaufen.
Streng genommen hätten Karin Thust und Martina und Jerome Gratzer jedes Teil, das sie besitzen, zählen und für alle Produktgruppen einen Emissionswert ermitteln müssen. Das wäre einerseits ein immenser Aufwand. Andererseits stößt auch da das Programm an seine Grenzen. Denn es sind nicht für alle Produkte konkrete Werte oder Studien verfügbar. So bleibt neben der Kleidung fraglich, wie viel CO2 die Blaubeeren und Nüsse verursachen, die Karin Thust täglich isst. Bei den Gratzers fehlt neben den Nüssen auch die Marmelade auf dem Brot. Ebensowenig
finden Reisen in Coronazeiten statt. Und gerade die können viele Extra-Punkte bringen. So spuckt der Rechner für eine Hotelübernachtung im Sommerurlaub 184 Punkte aus.
Trotz dieser Verzerrungen werden die großen Emissionsquellen deutlich. Genauso wie der Unterschied in den Klimabilanzen. Die vierköpfige Familie überschreitet ihr Klimabudget von 400 Punkten am Ende um 47,1 Punkte. Karin Thust um 181. Das liegt nicht zwingend daran, dass die Seniorin weniger klimabewusst lebt. Das Ehepaar Gratzer profitiert von seinen kleinen Kindern, die verhältnismäßig
Martina Gratzer, zweifache Mutter aus Tuttlingen wenig essen, selbst nichts kaufen und natürlich auch kein Auto fahren. Trotzdem steht ihnen ein Kontingent von 100 Punkten zu.
Schönreden wollen die Gratzers jedenfalls nichts. Etwas erschrocken zeigen sie sich bei der Klimabilanz besonders in einem Punkt: „Allein die Autos kosten praktisch schon zwei ganze Tagesbudgets. An dem Punkt kann man sicher ansetzen“, sagt Martina Gratzer. Und meldet einige Tage nach dem Gespräch zurück, dass sie das Thema durch den Test viel stärker umtreibt.
Etwas ratloser bleibt Karin Thust zurück. Schon vor dem Test habe sie der Klimawandel beschäftigt, schon immer kaufe sie bestmöglich regional. Sie würde auch nie eine Kreuzfahrt machen. Tatsächlich bleibt ihre einzig große „Baustelle“die Heizung. Die habe sie aber erst vor drei Jahren ausgetauscht. Sie wohne in einem Altbau, habe leider keine großen Alternativen gehabt.
„Allein die Autos kosten praktisch schon zwei ganze Tagesbudgets. An dem Punkt kann man sicher ansetzen.“