Migranten stecken sich wohl häufiger mit Corona an
In Tuttlingen liegt der Anteil mutmaßlich bei 50 Prozent und mehr – Die Gründe dafür sind vielfältig
„Das Video von Herrn Beck haben wir weiterverbreitet.“
Ercan Yorulmaz vom Kulturverein Feza
- Diese Aussage wird derzeit viel diskutiert: Überdurchschnittlich viele Migranten sollen von Corona-Infektionen betroffen sein, sagt zum Beispiel Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts. Während das Tuttlinger Landratsamt die Zahlen nicht nach Staatsangehörigkeit oder Migrationshintergrund auswertet, teilt die Stadtverwaltung Tuttlingen mit: „Es fällt auf, dass der Anteil der Infizierten mit mutmaßlichem Migrationshintergrund relativ hoch ist. Mal waren es rund 50 Prozent, mal auch deutlich mehr.“
Diese Einschätzung erfolgt laut Stadt-Pressesprecher Arno Specht allein anhand der Namen – und nicht jeder mit einem fremdklingenden Namen ist Migrant. „Aber man kann zumindest grobe Rückschlüsse ziehen“, meint die Stadtverwaltung, die aber auch auf die Problematik hinweist, dass es keine belastbaren Daten gebe. Ansonsten sei es nicht verwunderlich, dass viele Migranten unter den Corona-Infizierten seien, „in Anbetracht eines Migrantenanteils von rund 40 Prozent in Tuttlingen“. Weitere Punkte kämen als Beschleuniger hinzu, wie ein Arbeitsumfeld, in dem Homeoffice kaum umsetzbar sei, und vielfach beengte Wohnsituationen.
Aber wie ist die Corona-Aufklärung im Kreis Tuttlingen geregelt? Wie informieren die Behörden Menschen, die Probleme haben mit der deutschen Sprache, welche CoronaRegeln gelten? Wobei dabei erwähnt gehört, dass viele Migranten sehr gute Sprachkenntnisse haben.
Das Landratsamt setzt Hinweise und Merkblätter in verschiedenen Sprachen ein. Bernd Mager, Sozialdezernent des Landkreises, erklärt, dass Erläuterungen in Englisch, Französisch, Türkisch, Italienisch und Syrisch erfolgen würden. „Jede und jeden der rund 100 Nationalitäten im Landkreis in seiner Herkunftssprache zu bedienen, ist aber nicht möglich.“
Seit Beginn der Pandemie gebe es beim Gesundheitsamt einen Pool an Übersetzern, die zur Verfügung stehen. Oft werde im Gespräch mit Infizierten oder engen Kontaktpersonen auch ein Bekannter oder Verwandter hinzugezogen, der Deutsch kann und die Informationen übersetzt.
„Alle sind sicherlich nicht informiert“, sagt Elke Schaldecker. Sie ist bei der Ini Asyl aktiv und kümmert sich dort vor allem um ehrenamtliche Sprachkurse. Ein Angebot, das durch Corona nicht mehr stattfinden kann. Doch genau diese niederschwelligen Instrumente, wie auch das Café International oder auch das wöchentliche Treffen für Flüchtlingsfrauen im Café Kännchen, seien wichtige Informationsbörsen gewesen. Schaldecker betreut eine syrische Familie, die sich durch sie gut auskennen würde und wegen der Corona-Gefahr sehr vorsichtig sei. Wer keinen Betreuer habe, tue sich da deutlich schwerer und bekomme aktuelle Nachrichten, wie die hohen Inzidenzen im Kreis Tuttlingen, wohl kaum mit. „Diese Menschen sind gegenüber uns sehr viel mehr benachteiligt“, meint die Flüchtlingshelferin.
Die wichtigsten Regelungen, wie Maske tragen und Abstand einhalten, sind den Migrantinnen und Migranten geläufig, ist sich Mager sicher. Sobald ein unmittelbarer Kontakt mit dem Gesundheitsamt erfolgt, „haben wir in der Fallbearbeitung genügend Instrumente, um trotz Sprachbarrieren zu beraten und Regelungen zu treffen“. Er sieht aber auch eine Holschuld und nicht nur eine Bringschuld. Mager: „Aus unserer Sicht ist der Erfolg der Informationsweitergabe in erster Linie von der Bereitschaft des Empfängers abhängig.“Erfahrungsgemäß sei bei fehlenden Deutschkenntnissen mit hohem Misstrauen zu rechnen, sowohl bei der Vermitteilung über Dolmetscher als auch bei schriftlicher Mitteilung, lautet eine Erkenntnis des Landratsamts.
Neben der Sprachbarriere gebe es Infektionen, die auf das persönliche Verhalten zurückzuführen sind, gerade während des Ramadans, sagt Arno Specht: „Hier haben wir auch Hinweise, dass in manchen Familien trotz Corona das Fastenbrechen in größeren Gruppen begangen wird.“Auch nach den christlichen Festen wie Weihnachten und Ostern sei die Kurve kräftig angestiegen. Daran erkenne
man, dass sich viele Menschen schwer tun würden, in Pandemiezeiten auf Traditionen zu verzichten. „Ein Verhalten, das der derzeitigen Lage nicht angemessen ist“, lautet Spechts Urteil, sich aber durch alle Bevölkerungsgruppen und Religionen ziehen würde.
Die Stadt Tuttlingen verbreitet tagesaktuell alle Corona-Infos über Presse, Internet und Social Media. „Leider sind wir nicht in der Lage, auch in mehrere Sprachen zu übersetzen“, so Specht. Die wichtigsten
Regeln und auch die geltende Corona-Verordnung des Landes seien aber auf der städtischen Website auf Englisch, Französisch, Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch und Italienisch eingebunden. Zu finden sind die entsprechenden Links ganz oben im Corona-Themenbereich auf Tuttlingen.de.
Traditionsgemäß stellen türkische Mitbürger die größte Einzelgruppe unter den in Tuttlingen lebenden Migranten dar. Erst vergangene Woche hatte sich Oberbürgermeister Michael Beck mit einer Videobotschaft mit türkischen Untertiteln sowie Übersetzungen in weitere Sprachen an die Gemeinden gewandt. Dabei sei es um die Bitte gegangen, während des Ramadans auf das gemeinsame Fastenbrechen im privaten Rahmen zu verzichten. Auch im Herbst, als die Fallzahlen deutlich stiegen, suchte der OB den Kontakt zu verschiedenen Kulturund Moscheevereinen mit der Aufforderung, innerhalb der eigenen Community als Multiplikator zu wirken.
Ercan Yorulmaz vom türkischen Kulturverein Feza bestätigt genau das: „Das Video von Herrn Beck haben wir weiterverbreitet.“Auch sonst ist er sich sicher, dass die Menschen
im Umfeld von Feza gut Bescheid wüssten. Yorulmaz spricht fließend Deutsch, er und andere würden die Mitglieder informieren, die die Sprache weniger gut beherrschen. Neben der städtischen Homepage seien die des Gesundheitsministeriums und des RKI Plattformen, aus denen sie Informationen beziehen würden. „Wir halten uns an die Regeln. Auch während des Ramadans gibt es bei uns keine Familientreffen.“
Abschreckend seien sicherlich auch die Nachrichten aus der Türkei, in der die Corona-Lage derzeit deutlich schlimmer ist als in Deutschland. Aus seiner Sicht ist das auch ein Hinweis darauf, dass es eben nicht nur vom sprachlichen Verständnis abhänge, sondern auch davon, ob man die Regeln befolge – oder eben nicht.
Eine wichtige Aufgabe leisten auch die Integrationsmanager. Sie informieren vor allem Geflüchtete und weisen darauf hin, wo sie in ihren jeweiligen Muttersprachen Informationen über das Virus erhalten können. Specht: „Ob wir alle Adressaten erreichen, lässt sich schwerlich überprüfen.“Um so wichtiger sei es, immer wieder neue Vorstöße zu machen.