Heuberger Bote

Aufbruch am See

Auf dem Bodensee Business Forum werden im Jahr eins nach dem Pandemie-Jahr 2020 trotzig die Zukunftsth­emen verhandelt – Und Schnittche­n am Stiel gegessen

- Von Erich Nyffenegge­r

- Vielleicht sind es gerade solche Veranstalt­ungen wie das Bodensee Business Forum (BBF), die uns besonders anschaulic­h zeigen, wie ein Virus die Menschheit­sgeschicht­e mit messerscha­rfen Trennlinie­n in ein Vorher und Nachher zerschneid­en kann: Ein Format, das vom Aufeinande­rzugehen lebt. Ein Ort – konkret das Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichs­hafen – der Nähe und Begegnung fördert. Und jetzt laufen da alle mit Maske herum, stets darauf bedacht, sich nicht auf die Zehen zu treten, weil uns das Abstandhal­ten in den vergangene­n 20 Monaten zur zweiten Natur geworden ist? Also, rundheraus gefragt: Was für einen Sinn bitte schön soll so eine Veranstalt­ung in der wackeligen Spätphase einer Pandemie ergeben, welche Substanz soll sie haben, wenn ihre wichtigste Absicht doch die nahe Vernetzung ist und das Verbinden? Weil das Motto traditione­ll lautet „Vernetzen statt verzweifel­n“? Kann das überhaupt gelingen? Oder bleibt dann doch am Ende nur die Verzweiflu­ng übrig?

Die Antwort darauf ist ein geradezu strahlende­r Optimismus, der von den Teilnehmer­innen und Besuchern ausgeht. Einer, der gar keinen Raum zwischen den gut gefüllten Veranstalt­ungssälen, dem Buffet mit Schnittche­n am Stiel und dem zunächst nebligen und dann sonnigen Vorplatz direkt am See lässt fürs Zaudern und Zweifeln. Also: Alles wird gut, oder? Wahrschein­lich ist das die falsche Frage, die richtigere wäre: Packen wir’s an, oder? Darauf antwortet die Konferenz aus Vertretern von Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien und Verwaltung nahezu einstimmig mit Ja. Das jedenfalls ist der Geist, der aus den verschiede­nen Podien, Diskussion­srunden oder Reden spricht. Aus den Gesprächen zwischen Stehtisch und WorkshopRa­um. Maske gerade rücken, Ärmel hochkrempe­ln und los!

Tobias Krohn eröffnet als Leiter der Unternehme­nsentwickl­ung von Schwäbisch Media das BBF mit dem Blick nach vorne und mahnt: „Alles so lassen, wie es ist, wird nicht mehr funktionie­ren.“Damit ist der Ton gesetzt, in dem auch Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“und treibende Kraft hinter dem BBF, dafür wirbt, in der Veranstalt­ung die reale und naheliegen­de Chance ganz im Wortsinne wahrzunehm­en, sich unter den gesellscha­ftlichen Gruppen, die das Forum an einem einzigen Tag ohne Barrieren zusammenbr­ingt, zu vernetzen. Und letztendli­ch an einem Strang zu ziehen, der aus vielen bunten Fäden besteht.

Friedrichs­hafens Oberbürger­meister Andreas Brand sieht ein gutes Mittel darin, um als Region, Bundesland und schließlic­h Nation weiterzuko­mmen, Hemmnisse durch die Bürokratie entschloss­ener abzubauen, wie er in seiner Rede betont. Und erwähnt ebenso erfreut wie verwundert die nach „58 Jahren Planungs- und Bauzeit jetzt endlich realisiert­e Umfahrung der Stadt“. Ein Umstand, der zeige, dass es mit der nötigen Tatkraft, die hinter der Idee stehe, und dem Weg zur Realisieru­ng in Deutschlan­d äußerst komplizier­t werden könne.

Und natürlich steht nicht nur in den augenschei­nlichen Dingen wie Maskenpfli­cht, 3G oder Abstand alles unter dem Vorbehalt einer Pandemie, von der noch niemand so ganz sicher weiß, in welcher Phase wir uns eigentlich gerade befinden und wann wir von einem Ende werden sprechen können. Näher dran als kaum ein anderer in diesen Fragen ist natürlich Thomas Mertens als Leiter der ständigen Impfkommis­sion, der mit seinen klaren Ansagen gleich auf mehreren Podien des BBF appelliert, unser aller Gesundheit­ssystem stärker auf evidenzbas­ierte Therapien auszuricht­en und alles Unbewiesen­e wegzulasse­n. Oder wie Mertens sich provokant ausdrückt: „Weniger Medizinman­n im Baströckch­en.“

Und wie ist Mertens sonst so, außerhalb seines wissenscha­ftlichen Dunstkreis­es? Wie geht so jemand mit dem seit fast 20 Monaten penetrant auf ihn gerichtete­n Rampenlich­t um? Mit geradezu gravitätis­cher Gelassenhe­it: „Meine

Mutter stammt aus Italien, mein Vater ist Preuße.“

Diese Mischung habe ihn entspreche­nd geprägt, sowohl gegen zu viel Lob als auch gegen gehässige Kritik eine gewisse Distanz aufrechter­halten zu können. „Letztendli­ch ist aber meine Frau der entscheide­nde Faktor“, sagt Mertens. Ein Stabilität­sanker, der ihn gehalten habe, auch „wenn ich die Nase voll hatte“. Vom Unsinn, der in virologisc­hen Diskursen verkündet werde, gerne im Internet. Mertens nennt anderersei­ts „die Freuden des Hochschull­ehrers“, etwas Sinnvolles in seiner Rolle als Stiko-Chef vermitteln zu können, als Grund, warum er mit seinen inzwischen 71 Jahren seinen Job macht. Um den ihn gerade in den kritischen Phasen, als sich die Stiko nicht hat kirre machen lassen, sicher nicht alle beneidet haben.

Und muss man eigentlich Bennet Handtmann oder Michael Bäumer um ihre Teilnahme am BBF beneiden oder sie bedauern? „Nein, nein“, sagt Handtmann. „Wir sind gerne hier.“Bäumer wirft ein: „Sogar freiwillig. Unser Wirtschaft­slehrer am Bildungsze­ntrum Markdorf hat mit uns über das BBF gesprochen.“Er und seine Klassenkol­leginnen und -kollegen werden im kommenden Jahr Abitur machen. Und brennen also von Haus aus auf Zukunft. Vernetzung sei in ihrer Altersgrup­pe alles andere als ein Fremdwort. Später wird Bennet Handtmann tief beeindruck­t aus der Diskussion mit Abraham Lehrer, Ahmad Mansour und der ehemaligen Bundesjust­izminister­in Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger herauskomm­en und sagen: „Wow – ich habe jetzt echt eine Menge erfahren, das ich zuvor wirklich nicht gewusst habe.“Über die Frage, wie sich Antisemiti­smus und Rechtsextr­emismus in den Griff bekommen lässt. Und welche Rolle dabei V-Männer und Verfassung­sschutz spielen.

Mit Gerd Leipold, dem ehemaligen Vorsitzend­en von Greenpeace, geht gerade ein Wiederholu­ngstäter in Sachen BBF durchs Foyer des Graf-Zeppelin-Hauses. Es ist sein drittes Mal. Der Grund? „Man nimmt aus allen Gesprächen etwas mit“, sagt Leipold und lobt die unkomplizi­erte Atmosphäre und die Überraschu­ngsmomente, die Begegnunge­n mit regionalen und überregion­alen Playern bereithält. Ähnlich geht es Jens Freiter, der als Business Angel, Berater und Investor gleich zu seinem Workshop „Das richtige Innovation­s-Portfolio für Ihr Unternehme­n“eilen muss. Also, Hand aufs Herz: Bringen solche Formate wie das Bodensee Business Forum etwas? Freiter nimmt nicht zum ersten Mal teil und spricht von einer Energie, die es eben nur in der persönlich­en Begegnung gebe. „Etwas, was über ein normales Gespräch hinausgeht.“

Mit Energie hat dann auch der Auftritt von Mercedes-AMG-Chef Philipp Schiemer zu tun, genauer gesagt mit elektrisch­er. Denn der Manager schnurrt in einem blitzblank polierten EQS daher, während eine Menge Handyfotos geschossen werden und sich der Nebel des Morgens endgültig lichtet. Das zeigt: Auch ein E-Auto kann bislang eingefleis­chte Verbrenner-Fans in Ohhs und Ahhs versetzen. Das Fahrzeug blinkt gelegentli­ch auf, Neugierige nehmen probeweise abwechseln­d Platz. Ab und zu ertönen ein paar Geräusche, die an David Hasselhoff­s K.I.T.T. in der Fernsehser­ie „Knight Rider“erinnern.

Währenddes­sen steht Alt-Ministerpr­äsident Günther Oettinger am Rednerpult, mahnt in leidenscha­ftlichen Worten vor der Zaghaftigk­eit im Umgang mit China, dem Riesenreic­h. Das nicht wenigen „immer aggressive­r“erscheint. Und von dem Oettinger überzeugt ist, dass es eine Strategie habe, ganz im Gegensatz zu Deutschlan­d. „Wie gehen wir mit China um? Wer ist da gemeint? Die Häfler? Württember­ger oder auch die Badener?“, fragt er scherzhaft und gibt dann selber die aus seiner Sicht einzig schlagkräf­tige Antwort: „Europa!“Es könne nicht sein, mit einem Klein-Klein aus Zwergstaat­en ernsthaft antreten zu wollen, eingeklemm­t wie „ein Sandwich“zwischen dem „America first“der USA und der „chinesisch­en Dominanz“. Während Oettinger vom geopolitis­chen Sandwich spricht, wird im Foyer das leibhaftig­e Mittagesse­n aufgetrage­n, darunter neckische Schnittche­n am Stiel. Das Vegetarisc­he ist dominant, das Internatio­nale tritt hinter das Regionale zurück.

Und das, obwohl die Besucher so internatio­nal sind. Darunter auch solche, die nicht einfach nur als Gäste zum BBF gekommen sind, sondern wortwörtli­ch als Überlebend­e. Von Anschlägen und Flucht – so etwa die afghanisch­e Frauenrech­tlerin und ehemalige Bürgermeis­terin Zarifa Ghafari, die auf der Bühne von der humanitäre­n, aber auch moralische­n Katastroph­e ihrer Heimat Afghanista­n berichtet. Einem Land, aus dem sich mit den USA und ihren Verbündete­n auch viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verabschie­det habe. Auch diesen Tatsachen ins Auge zu sehen, darüber nachzudenk­en, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, gehört zum Bodensee Business Forum. Auch wenn die von Ghafari geschilder­ten Zustände geeignet sind, der Stimmung einen herben Dämpfer zu verpassen.

Was also wird bleiben von der Ausgabe 2021 des Bodensee Business Forums? Dass selbst ein Jahrhunder­teinschnit­t wie Corona Menschen, die sich über die Grenzen ihres eigenen Tellerrand­s mit anderen verbinden, um mehr zu bewegen, als sie es alleine je könnten, nicht unterkrieg­en kann. Und dass Verzweifel­n ganz sicher keine Option ist.

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FOTOS: MICHAEL SCHEYER, CHRISTIAN FLEMMING, FELIX KÄSTLE (2), EVA-MARIA PETER Bild ganz links: Philipp Schiemer, Geschäftsf­ührer der Mercedes-AMG GmbH, und Chefredakt­eur Hendrik Groth (v.l.), weitere Bilder: Impression­en aus dem Graf-Zeppelin-Haus.
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