Aufbruch am See
Auf dem Bodensee Business Forum werden im Jahr eins nach dem Pandemie-Jahr 2020 trotzig die Zukunftsthemen verhandelt – Und Schnittchen am Stiel gegessen
- Vielleicht sind es gerade solche Veranstaltungen wie das Bodensee Business Forum (BBF), die uns besonders anschaulich zeigen, wie ein Virus die Menschheitsgeschichte mit messerscharfen Trennlinien in ein Vorher und Nachher zerschneiden kann: Ein Format, das vom Aufeinanderzugehen lebt. Ein Ort – konkret das Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichshafen – der Nähe und Begegnung fördert. Und jetzt laufen da alle mit Maske herum, stets darauf bedacht, sich nicht auf die Zehen zu treten, weil uns das Abstandhalten in den vergangenen 20 Monaten zur zweiten Natur geworden ist? Also, rundheraus gefragt: Was für einen Sinn bitte schön soll so eine Veranstaltung in der wackeligen Spätphase einer Pandemie ergeben, welche Substanz soll sie haben, wenn ihre wichtigste Absicht doch die nahe Vernetzung ist und das Verbinden? Weil das Motto traditionell lautet „Vernetzen statt verzweifeln“? Kann das überhaupt gelingen? Oder bleibt dann doch am Ende nur die Verzweiflung übrig?
Die Antwort darauf ist ein geradezu strahlender Optimismus, der von den Teilnehmerinnen und Besuchern ausgeht. Einer, der gar keinen Raum zwischen den gut gefüllten Veranstaltungssälen, dem Buffet mit Schnittchen am Stiel und dem zunächst nebligen und dann sonnigen Vorplatz direkt am See lässt fürs Zaudern und Zweifeln. Also: Alles wird gut, oder? Wahrscheinlich ist das die falsche Frage, die richtigere wäre: Packen wir’s an, oder? Darauf antwortet die Konferenz aus Vertretern von Politik, Wirtschaft, Kultur, Medien und Verwaltung nahezu einstimmig mit Ja. Das jedenfalls ist der Geist, der aus den verschiedenen Podien, Diskussionsrunden oder Reden spricht. Aus den Gesprächen zwischen Stehtisch und WorkshopRaum. Maske gerade rücken, Ärmel hochkrempeln und los!
Tobias Krohn eröffnet als Leiter der Unternehmensentwicklung von Schwäbisch Media das BBF mit dem Blick nach vorne und mahnt: „Alles so lassen, wie es ist, wird nicht mehr funktionieren.“Damit ist der Ton gesetzt, in dem auch Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“und treibende Kraft hinter dem BBF, dafür wirbt, in der Veranstaltung die reale und naheliegende Chance ganz im Wortsinne wahrzunehmen, sich unter den gesellschaftlichen Gruppen, die das Forum an einem einzigen Tag ohne Barrieren zusammenbringt, zu vernetzen. Und letztendlich an einem Strang zu ziehen, der aus vielen bunten Fäden besteht.
Friedrichshafens Oberbürgermeister Andreas Brand sieht ein gutes Mittel darin, um als Region, Bundesland und schließlich Nation weiterzukommen, Hemmnisse durch die Bürokratie entschlossener abzubauen, wie er in seiner Rede betont. Und erwähnt ebenso erfreut wie verwundert die nach „58 Jahren Planungs- und Bauzeit jetzt endlich realisierte Umfahrung der Stadt“. Ein Umstand, der zeige, dass es mit der nötigen Tatkraft, die hinter der Idee stehe, und dem Weg zur Realisierung in Deutschland äußerst kompliziert werden könne.
Und natürlich steht nicht nur in den augenscheinlichen Dingen wie Maskenpflicht, 3G oder Abstand alles unter dem Vorbehalt einer Pandemie, von der noch niemand so ganz sicher weiß, in welcher Phase wir uns eigentlich gerade befinden und wann wir von einem Ende werden sprechen können. Näher dran als kaum ein anderer in diesen Fragen ist natürlich Thomas Mertens als Leiter der ständigen Impfkommission, der mit seinen klaren Ansagen gleich auf mehreren Podien des BBF appelliert, unser aller Gesundheitssystem stärker auf evidenzbasierte Therapien auszurichten und alles Unbewiesene wegzulassen. Oder wie Mertens sich provokant ausdrückt: „Weniger Medizinmann im Baströckchen.“
Und wie ist Mertens sonst so, außerhalb seines wissenschaftlichen Dunstkreises? Wie geht so jemand mit dem seit fast 20 Monaten penetrant auf ihn gerichteten Rampenlicht um? Mit geradezu gravitätischer Gelassenheit: „Meine
Mutter stammt aus Italien, mein Vater ist Preuße.“
Diese Mischung habe ihn entsprechend geprägt, sowohl gegen zu viel Lob als auch gegen gehässige Kritik eine gewisse Distanz aufrechterhalten zu können. „Letztendlich ist aber meine Frau der entscheidende Faktor“, sagt Mertens. Ein Stabilitätsanker, der ihn gehalten habe, auch „wenn ich die Nase voll hatte“. Vom Unsinn, der in virologischen Diskursen verkündet werde, gerne im Internet. Mertens nennt andererseits „die Freuden des Hochschullehrers“, etwas Sinnvolles in seiner Rolle als Stiko-Chef vermitteln zu können, als Grund, warum er mit seinen inzwischen 71 Jahren seinen Job macht. Um den ihn gerade in den kritischen Phasen, als sich die Stiko nicht hat kirre machen lassen, sicher nicht alle beneidet haben.
Und muss man eigentlich Bennet Handtmann oder Michael Bäumer um ihre Teilnahme am BBF beneiden oder sie bedauern? „Nein, nein“, sagt Handtmann. „Wir sind gerne hier.“Bäumer wirft ein: „Sogar freiwillig. Unser Wirtschaftslehrer am Bildungszentrum Markdorf hat mit uns über das BBF gesprochen.“Er und seine Klassenkolleginnen und -kollegen werden im kommenden Jahr Abitur machen. Und brennen also von Haus aus auf Zukunft. Vernetzung sei in ihrer Altersgruppe alles andere als ein Fremdwort. Später wird Bennet Handtmann tief beeindruckt aus der Diskussion mit Abraham Lehrer, Ahmad Mansour und der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger herauskommen und sagen: „Wow – ich habe jetzt echt eine Menge erfahren, das ich zuvor wirklich nicht gewusst habe.“Über die Frage, wie sich Antisemitismus und Rechtsextremismus in den Griff bekommen lässt. Und welche Rolle dabei V-Männer und Verfassungsschutz spielen.
Mit Gerd Leipold, dem ehemaligen Vorsitzenden von Greenpeace, geht gerade ein Wiederholungstäter in Sachen BBF durchs Foyer des Graf-Zeppelin-Hauses. Es ist sein drittes Mal. Der Grund? „Man nimmt aus allen Gesprächen etwas mit“, sagt Leipold und lobt die unkomplizierte Atmosphäre und die Überraschungsmomente, die Begegnungen mit regionalen und überregionalen Playern bereithält. Ähnlich geht es Jens Freiter, der als Business Angel, Berater und Investor gleich zu seinem Workshop „Das richtige Innovations-Portfolio für Ihr Unternehmen“eilen muss. Also, Hand aufs Herz: Bringen solche Formate wie das Bodensee Business Forum etwas? Freiter nimmt nicht zum ersten Mal teil und spricht von einer Energie, die es eben nur in der persönlichen Begegnung gebe. „Etwas, was über ein normales Gespräch hinausgeht.“
Mit Energie hat dann auch der Auftritt von Mercedes-AMG-Chef Philipp Schiemer zu tun, genauer gesagt mit elektrischer. Denn der Manager schnurrt in einem blitzblank polierten EQS daher, während eine Menge Handyfotos geschossen werden und sich der Nebel des Morgens endgültig lichtet. Das zeigt: Auch ein E-Auto kann bislang eingefleischte Verbrenner-Fans in Ohhs und Ahhs versetzen. Das Fahrzeug blinkt gelegentlich auf, Neugierige nehmen probeweise abwechselnd Platz. Ab und zu ertönen ein paar Geräusche, die an David Hasselhoffs K.I.T.T. in der Fernsehserie „Knight Rider“erinnern.
Währenddessen steht Alt-Ministerpräsident Günther Oettinger am Rednerpult, mahnt in leidenschaftlichen Worten vor der Zaghaftigkeit im Umgang mit China, dem Riesenreich. Das nicht wenigen „immer aggressiver“erscheint. Und von dem Oettinger überzeugt ist, dass es eine Strategie habe, ganz im Gegensatz zu Deutschland. „Wie gehen wir mit China um? Wer ist da gemeint? Die Häfler? Württemberger oder auch die Badener?“, fragt er scherzhaft und gibt dann selber die aus seiner Sicht einzig schlagkräftige Antwort: „Europa!“Es könne nicht sein, mit einem Klein-Klein aus Zwergstaaten ernsthaft antreten zu wollen, eingeklemmt wie „ein Sandwich“zwischen dem „America first“der USA und der „chinesischen Dominanz“. Während Oettinger vom geopolitischen Sandwich spricht, wird im Foyer das leibhaftige Mittagessen aufgetragen, darunter neckische Schnittchen am Stiel. Das Vegetarische ist dominant, das Internationale tritt hinter das Regionale zurück.
Und das, obwohl die Besucher so international sind. Darunter auch solche, die nicht einfach nur als Gäste zum BBF gekommen sind, sondern wortwörtlich als Überlebende. Von Anschlägen und Flucht – so etwa die afghanische Frauenrechtlerin und ehemalige Bürgermeisterin Zarifa Ghafari, die auf der Bühne von der humanitären, aber auch moralischen Katastrophe ihrer Heimat Afghanistan berichtet. Einem Land, aus dem sich mit den USA und ihren Verbündeten auch viel Hoffnung auf eine bessere Zukunft verabschiedet habe. Auch diesen Tatsachen ins Auge zu sehen, darüber nachzudenken, welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, gehört zum Bodensee Business Forum. Auch wenn die von Ghafari geschilderten Zustände geeignet sind, der Stimmung einen herben Dämpfer zu verpassen.
Was also wird bleiben von der Ausgabe 2021 des Bodensee Business Forums? Dass selbst ein Jahrhunderteinschnitt wie Corona Menschen, die sich über die Grenzen ihres eigenen Tellerrands mit anderen verbinden, um mehr zu bewegen, als sie es alleine je könnten, nicht unterkriegen kann. Und dass Verzweifeln ganz sicher keine Option ist.