Flüchtlinge? Landrat nimmt Gemeinden in die Pflicht
Kreis kommt bei Unterbringung an die Grenzen – Gemeinden müssen mitmachen, sonst drohen Hallenschließungen
- Mehr als 1800 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hat der Landkreis Tuttlingen seit Februar bereits aufgenommen. Zusätzlich kamen innerhalb des Jahres weitere 224 Asylbewerber in die Region. Damit liegt die Zuwanderung schon jetzt zahlenmäßig über dem Zustrom von 2015/16. Und es werden noch mehr kommen, fürchtet die Landkreisverwaltung. Weil die eigenen Möglichkeiten, die Menschen unterzubringen, begrenzt sind, nimmt Landrat Stefan Bär die Kommunen in die Pflicht, Wohnraum zur Verfügung zu stellen – andernfalls müssten wieder Sporthallen als Unterkunft zweckentfremdet werden.
„Manch eine Gemeinde hat gedacht, durch die Unterbringung der Flüchtlinge in privaten Unterkünfte geht die Zuteilung an mir vorbei. Aber das passiert nicht. Jede Gemeinde steht nun vor der Frage: Nehme ich die Sporthalle, das Gemeindehaus – oder finde ich Leerstände“, sagt Bär, der den ansteigenden Druck durch die Migration jetzt „an die Bürgermeister weitergibt.“
Eigentlich wäre der Landkreis Tuttlingen nicht in erster Linie gefordert, noch mehr Flüchtlinge unterzubringen. Aktuell leben 2800 Flüchtlinge und Asylbewerber im Kreis. Die Zugangszahlen von Kriegsflüchtlingen und Asylbewerbern nach Baden-Württemberg haben sich aber so stark verändert – von Juli bis Mitte August verdoppelte sich die Zahl der ukrainischen Flüchtlingen von 113 auf 233 am Tag –, dass das Land die Zuteilungspraxis anpassen musste. „Wir sind in einer Notsituation“, schreibt Siegfried Lorek, Staatssekretär im Landesministerium für Justiz und Migration, in einem
Brief an die Landräte und Bürgermeister. Die Erstaufnahmeinrichtungen seien schon jetzt an die Belastungsgrenze gekommen.
Weil die Plätze dort für Asylsuchende aus anderen Staaten gebraucht werden, werden ukrainische Kriegsflüchtlinge jetzt nach wenigen Stunden ohne Registrierung an die Stadt- und Landkreise weiterverteilt. „Allein für September sind uns 185 ukrainische Flüchtlinge angekündigt
worden“, sagt Bär. Diese seien dann zwar in Nordrhein-Westfalen untergebracht worden, aber: „Die Zahlen werden im Oktober und November noch steigen.“
Das Problem ist, dass im Vergleich zu 2015/16 weniger Gemeinschaftsunterkünfte (GU) im Kreis zur Verfügung stehen und diese mit 750 Asylbewerbern und ukrainischen Flüchtlingen belegt sind. Maximal 762 Plätze sind dort vorhanden. Deshalb werden
in Spaichingen und Neuhausen ob Eck insgesamt weitere 160 Plätze vorbereitet. Damit wären die Kapazitäten des Kreises zunächst ausgeschöpft. „Wir wollen die Kreissporthalle eigentlich nicht mit Flüchtlingen belegen. Aber ich weiß nicht, ob wir das halten können“, sagt Bär. Dies sei nur zu verhindern, wenn auch die Kommunen nun verstärkt Wohnraum für Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Bisher ist dies, nach
Darstellung der Kreisverwaltung, nicht ausreichend passiert. Von 50 ukrainischen Flüchtlingen, die in den Gemeinden untergebracht werden sollten, wurde nur für fünf Personen Wohnraum gefunden. Aktuell müssen einige Ukrainer, die noch in der GU in der Händelstraße in Trossingen leben, den Kommunen zur Anschlussunterbringung zugewiesen werden. Bär äußerte Verständnis und die Bereitschaft, etwas Geduld
mit den Gemeinden zu haben. „Wir geben ein paar Tage Aufschub, wenn man uns nachweist, dass Plätze hergerichtet werden.“
Bernhard Schnee (CDU) sorgte sich in der Sitzung des Kreisausschuss für Soziales und Gesundheit auch um den „sozialen Frieden“, wenn Sporthallen wieder belegt werden. Stefan Waizenegger, Bürgermeister von Fridingen, sah sogar schon die „Axt an den sozialen Frieden“gelegt. Er fühle sich von der „höheren Politik nicht verstanden. Die Entscheidungsträger in Berlin und Stuttgart sind zu weit weg. Wir brauchen mehr finanzielle Unterstützung.“Zusätzlich zu der Unterbringung der Flüchtlinge kämen noch Fragen nach Kindergartenoder Schulplätzen hinzu. „Die Politik stößt was an und dann?“
Gemeint ist möglicherweise auch der Rechtskreiswechsel, nach dem ukrainische Kriegsvertriebene anstatt der Leistungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz nun die Leistungen des Sozialgesetzbuches II – aktuell Hartz IV, ab Jahreswechsel das Bürgergeld – erhalten. „Wir sehen das kritisch“, sagte Bär. Wenn die Menschen schon flüchten müssten, dann würden sie sich das Land aussuchen, von dem sie sich das meiste versprechen, erklärte er. Dies sei legitim. Viele Landkreise, heißt es von Verwaltungsseite, hätten festgestellt, dass Ukrainer auch aus anderen EU-Ländern nach Deutschland kämen, weil dort die Sozialleistungen höher sind.
Immerhin hat das Land angekündigt, die Unterbringungskapazitäten in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu erhöhen. Das würde den Stadt- und Landkreisen sowie den Kommunen mehr Zeit geben, nach geeignetem Wohnraum zu suchen.