Das andere, bunte, wilde Ich
Über die unbändige Lust des Menschen an Verkleidung und Mummenschanz
Manche packt der Graus. Fasnet, Fasching, Karneval? Diese Auflösung der alltäglichen Ordnung wollen sie unbedingt vermeiden und fliehen vor den tollen Tagen bis nach Honolulu – oder Nordfriesland. Aber selbst dort, an windigen Deichen, besteht die Gefahr, einem zur Narretei entschlossenen Kostümierten zu begegnen. Denn die Maskerade liegt in der Natur des Menschen, der, im Gegensatz zu anderen Spezies, kein natürliches Fell hat und mit seiner selbst gewählten Kleidung eigentlich immer ein Statement abgibt: Ich bin vornehm, ich bin lässig, ich gehöre dazu, ich hebe mich ab, ich will bloß nicht auffallen, ich will glänzen. Wie auch immer die Gewohnheiten aussehen – im Fasching darf alles ganz anders sein.
Kostümieren ist mehr als ein oberf lächliches Spiel. Wer sich mit Dreispitz, Zottelhaar und Plastikdolch als Pirat verkleidet, zeigt dadurch seine „anarchische, wilde, freiheitsliebende Seite“, verrät Psychologin Katja Mierke von der Fresenius Hochschule dem Portal wissen.de, „ganz nach dem Motto: Ich nehme mir, was mir gefällt.“Wie Professorin Mierke versichert, werden durch mit Kostümen assoziierte Rollen tatsächlich gewisse Prozesse im Gehirn beeinf lusst: „Trugen Teilnehmerinnen eines Versuchs einen Blazer, wurden eine seriösere Haltung und Gefühle von Macht und Kompetenz aktiviert.“Kleider machen Leute, davon handelt nicht nur Gottfried Kellers berühmte Novelle. Und im Fasching ist auch eine Verkleidung erlaubt, die Vernunft und Karriere zuwiderläuft.
„Die Maskierung macht uns freier und schützt uns“, ist eine Erkenntnis des Kölner Psychotherapeuten und Karnevalsforschers Wolfgang Oelsner. Und auch, wenn die Lust an der Verfremdung des Gesichts durch den medizinischen Maskenzwang in der Corona-Pandemie, sagen wir mal, leicht gelitten hat, wird jetzt wieder fröhlich der Mummenschanz gefeiert. Vielleicht auch aus tieferen Gründen. Denn die Maske, die das eigene verletzliche Wesen verbirgt, diente ursprünglich dem Kult und wurde benutzt, um Gottheiten zu erreichen oder böse Geister abzuschrecken. Und wollen wir das nicht auch irgendwie, wenn die Hexengruppen durch die Fasnet springen?
Felsmalereien mit TierMensch-Mischwesen deuten darauf hin, dass es schon in der eiszeitlichen Jägerkultur etwa 15.000 Jahre vor Christi Geburt schamanische Bräuche gab, in denen Verkleidungen eine Rolle spielten. Das Überstülpen von Schädeln, Fell und Geweihen war bei Naturvölkern bis in die Neuzeit verbreitet. So sollte die Kraft der Kreatur auf den eher schwachen Menschen übergehen. Und in einer spielerischen Weise ist es auch heute noch so, wenn der rheinische Karnevalsjeck in ein kuscheliges Plüschbärenkostüm schlüpft, bis zur Heiserkeit brüllt und die Pranken reckt.
Aus dem Ritus entstand das Theater, die große Volksbelustigung, und auch da verließ man sich zunächst nicht auf die schauspielerische Begabung. In den Arenen der alten Griechen wurden typisierte Masken benutzt, um die Rolle und das Empfinden der Figuren unmissverständlich auszudrücken. Ähnliches ist im traditionellen japanischen NôTheater üblich. Jeder soll auf den ersten Blick erkennen, wer da auftritt: die junge Dame (Waka Onna, lächelnd, hohe Augenbrauen) oder der alte Mann (Ko-jo mit den Sorgenfalten). Das tatsächliche Aussehen der Mimen ist dabei irrelevant. Und wehe, der Oni kommt (roter Dämon mit Hörnern und Raffzähnen)!
Auch auf westlichen Bühnen wurde noch lange mit festgelegten Typen gespielt, die bis in die Gegenwart bekannt und beliebt sind. In der Oper, im Zirkus und im Karneval sieht man immer noch das Personal der Commedia dell’arte, die sich im Italien des 16. Jahrhunderts aus den Jahrmarktspossen des Mittelalters entwickelte. Lache,
Bajazzo! Am populärsten ist sicher der kunterbunt gekleidete Harlekin, jener Schalk, in dem sich Gut und Böse vereinen. Auf seine leicht tölpelhafte, immer fröhliche Art darf er sich alles herausnehmen und kennt keinen Respekt vor den Obrigkeiten. Das vereint ihn mit der Figur des Hofnarren, der auch dem Fürsten die Wahrheit sagen durfte und dessen Bild in den Kartenspielen den Joker ziert, der alles schlägt.
Der Kasper im Puppentheater und viele Generationen von
Clowns sind die losen Verwandten des Harlekins. Eine rote Pappnase gilt als Zeichen des Clowns, der auf Kindergeburtstagen allerdings auch mal Tränen auslösen kann. Denn das grobe Auftreten des Spaßmachers berührt den Rand des Schreckens, zumal seine Maske das menschliche Gesicht verdeckt. Nicht ohne Grund wütet ein Clown als gruseliger Killer in Stephen Kings „Es“. Ein Rausch ohne Reue ist hingegen eine andere Variation der menschlichen Commedia, der venezianische
Karneval mit seinen festlichen, überreich geschmückten Masken und barocken Gewändern. Kitsch darf sein.
Ähnlich müssen die Gäste auf den Maskenbällen von Ludwig XIV. in Versailles ausgesehen haben, nur mit echten Perlen und Brillanten. Unter gigantischen Perücken und Masken, die das halbe Gesicht verbargen, gelangen besonders gut die Koketterie und die Intrige. Marie Antoinette, die Schwiegerenkelin des Sonnenkönigs, war ein besonderer
Fan dieses Brauchs. Auf einem Maskenball soll sie ein Techtelmechtel mit dem hübschen Schweden Axel von Fersen begonnen haben. Denn das Verbergen der wahren Absicht kann auch Ziel einer Verkleidung sein, das zeigen nicht nur die gespensterhaften Maskenzüge auf den Bildern des Symbolisten James Ensor. Ganz zu schweigen von den Vermummungen von Räubern und Banditen, die so der gerechten Strafe entgehen wollen.
Aber, halt! Jetzt haben wir gute Laune. Es ist Fasching. Der Rollenwechsel, im Büro völlig unangemessen, darf ausprobiert werden. Allerdings nicht mehr so hemmungslos wie in politisch unkorrekteren Tagen. Schon 2018 haben die „Negerköpp“aus Frechen, die 40 Jahre lang mit Baströckchen, schwarz gefärbten Gesichtern und Knochenschmuck im rheinischen Karneval unterwegs waren, ihren Namen in „Wilde Frechener“umgeändert. Gelb geschminkte Chinesen mit angeklebten Zöpfen müssen zu Hause bleiben. Lustig sein ist okay, lustig machen über andere Kulturen geht gar nicht mehr. Aber auch hochachtungsvoll soll man sich nicht mehr mit fremden Federn schmücken. Das geliebte Indianerkostüm muss eingemottet werden, denn es könnte als kulturelle Aneignung gesehen werden.
Also: Schluss mit Winnetou! Der närrischen Freiheit sind Grenzen eines neuen Anstands gesetzt. Sensibilität siegt. Das bringt die Kostümhändler in eine gewisse Verlegenheit. Aber sie haben neue Konzepte entwickelt. Fantasy-Helden sind erst mal unbedenklich, und Fledermäuse fühlen sich (noch) nicht beleidigt, wenn irgendein Klaus als Batman die Kappe mit den Öhrchen und den Flügelumhang trägt. Als Luke Skywalker dürfen Knaben das stumpf leuchtende Laserschwert schwingen. Und mit türkisfarbener Schminke, spitzen Ohren, Flechtenzöpfen und einem reizenden Schwänzchen am Trikot werden brave Mädchen zur kämpferischen Neytiri aus James Camerons Sternen-Märchen „Avatar“.
Schneewittchen oder Rotkäppchen mit ihren treuherzigen Rollen sind nicht mehr so angesagt. Nur kleine Träumerinnen möchten noch ein Krönchen tragen und als liebliche Prinzessin gehen. Vampire beiderlei Geschlechts hingegen sind ebenso beliebt wie andere Erscheinungen von der düsteren Seite der Macht. Ganze Brigaden von Tod (Skelett-T-Shirt) und Teufel (Hörnerreif im Haar) suchen die Stätten des Frohsinns heim. Nicht jeder findet es geschmackvoll, als blutverschmierter Zombie durch die Straßen zu taumeln. Aber wie toll sieht das schwarze Tüll-Ballkleid von „Wednesday“aus, der aus der Netf lix-Serie bekannten Gruftie-Tochter der Addams-Family?
Und da wären noch die Witzbolde. So mancher Mann macht sich gern zur Biene Maja, denn das gelb-schwarz-gestreifte Kostüm verbirgt den Bauch so schön. Familien oder Cliquen gehen als Teletubbies oder Hasen, die Ganzkörperlösung hilft auch gegen Kälte. Wenn die Nähte krachen – egal! Im nächsten Jahr gibt’s ein neues Kostüm. Solche Lockerheiten sind im Ritual der schwäbisch-alemannischen Fastnacht natürlich verpönt. Es herrscht eine Gruppenordnung. Die Masken und Kostüme, Larven und Häs genannt, werden immer wieder getragen, gehütet und zum Teil von Generation zu Generation weitergegeben. Denn das Narrenkleid hat Charakter.