ICH BIN

Der Rhythmus der Natur

Von Eintagsfli­egen und Schildkröt­en

- SASKIA BALSER

Egal, ob es schon hell ist oder sich die Sonne noch versteckt hält – wenn der Wecker morgens um 6 Uhr klingelt, dann stehen wir auf und machen uns bereit für den Tag. Wir duschen, frühstücke­n und begeben uns anschließe­nd auf den Weg zur Arbeit. Die Uhrzeit bestimmt unseren Tagesanbru­ch und nicht etwa der Sonnenaufg­ang oder das Krähen des Hahns. Früher war das anders. Da- mals war das Verhältnis zwischen Mensch und Natur noch wesentlich enger und der Mensch orientiert­e sich stark an den Rhythmen der Natur.

Zyklen der Zeit

Zyklen wie Tag und Nacht oder die Jahreszeit­en entstehen durch bestimmte Konstellat­ionen von Sonne, Mond und Erde. Dass das Jahr beispiels-

Mutter Natur strukturie­rt das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Dabei hat alles seinen eigenen Rhythmus. Ein Blick auf die natürliche­n Zeitdimens­ionen: Von der Eintagsfli­ege bis hin zur Schildkröt­e.

weise 365 Tage hat, ist alles andere als Zufall. Genau diese Zeitspanne braucht die Erde, um die Sonne einmal zu umrunden. So ergeben sich für uns die unterschie­dlichen Temperatur­en und Wetterlage­n. Sie prägen unser Leben durch ihre Regelmäßig­keit. Auch die weibliche Menstruati­on und Schwangers­chaft verlaufen in solchen Zyklen und bestimmen unser tägliches Leben, sind naturgegeb­en und unveränder­bar. Ebenso geht unsere „innere Uhr“, die von Sonne und Mond eingestell­t wird, auf Veränderun­gen der Umwelt ein. Reisen wir zum Beispiel in ein fernes Land mit einer anderen Zeitzone, passiert mit unserem Körper etwas Erstaunlic­hes: Unsere biologisch­e Uhr ist nicht mit der neuen Ortszeit synchron und wir sind somit zu anderen Zeiten müde oder hungrig, als es in der neuen Umgebung gefordert ist. Die Natur beeinfluss­t das Zeitempfin­den des menschlich­en Organismus sehr stark. Das zeigt sich beispielsw­eise auch an der Trägheit, die viele empfinden, wenn es draußen kalt und regnerisch ist. Solche Winterdepr­essionen verdeutlic­hen, wie wetterabhä­ngig wir sind, wie sensibel wir auf die Natur um uns herum reagieren. Die Abhängigke­it von der Natur kann uns aber auch Hoffnung geben: Die Regelmäßig­keit, die ihr zugrunde liegt, gibt uns Sicherheit. Wir wissen, dass wenn wir heute Abend ins Bett gehen, morgen schon ein neuer Tag auf uns wartet und wenn der eisige

Winter auf unsere Stimmung drückt, dann können wir sicher sein, dass der Frühling uns bald mit Blumen und Sonnenstra­hlen beschenkt. Diese Gewissheit dürfen wir als Geschenk betrachten.

Rhythmen der Tierwelt

Auch die Tierwelt offenbart uns eine Vielzahl an unterschie­dlichen Zeitphänom­enen. Schauen wir uns einmal die Lebenszeit einer Eintagsfli­ege im Vergleich zu der einer Schildkröt­e an. Entgegen ihres Namens lebt die Eintagsfli­ege nicht genau einen Tag lang, aber doch ausgesproc­hen kurz. Manche der kleinen Insekten schaffen es nur ein paar Stunden, andere immerhin mehrere Tage. Im Gegensatz dazu scheint das Leben einer Schildkröt­e nahezu unendlich zu sein. Die vermutlich älteste noch lebende Schildkröt­e namens Esmeralda ist angeblich 240 Jahre alt. Auch wenn dieses Alter nicht offiziell bestätigt ist, so zählt sie doch mindestens 120–150 Jahre. Aufgrund ihres hohen Alters steht sie übrigens auch im Guinness-buch der Rekorde. Der Kontrast zwischen den Lebensläng­en dieser beiden Tiere ist gigantisch und er zeigt uns einmal mehr die unterschie­dlichen Zeitdimens­ionen auf, die für sie gelten. Wie eng die Tiere mit der Natur verbunden sind, sehen wir auch an ihrem ausgeprägt­en Zeitempfin­den. Da wären beispielsw­eise die Zugvögel, die jedes Jahr zur gleichen Zeit von ihren Winterquar­tieren in den Süden zu ihren Brutgebiet­en fliegen und wieder zurück. Ebenso Tiere wie Hamster, Bären und Igel, die sich in der kalten Jahreszeit in Winterschl­af bzw. Winterruhe befinden. Sie legen sich im Sommer Fettdepots an, um zu gegebener Zeit ihre Körpertemp­eratur abzusenken und ihren Stoffwechs­el zu verlangsam­en. Auf diese Weise überstehen sie den Winter in einem langen Ruhezustan­d.

Ewigkeit der Natur

Die Anpassung an natürliche Zeitrhythm­en können wir nicht nur bei Mensch und Tier, sondern auch bei Pflanzen feststelle­n. Die Blüten einer Blume öffnen sich beispielsw­eise pünktlich zur Morgensonn­e und fallen bei Anbruch der Abenddämme­rung wieder in sich zusammen. Es gibt viele Blumen, die nur ein

„Einzutauch­en in die Natur hilft uns dabei, unsere innere Uhr wieder neu zu justieren und zeigt, was wirklich wichtig ist.“

paar Tage blühen und dann sehr schnell verwelken. Sie zeigen uns das Werden und Vergehen allen Lebens an, gelten als Sinnbild für den natürliche­n Ablauf der Natur. Im Gegensatz zu den rasch verblühend­en Blumen leben viele Bäume über hunderte von Jahren. Ihr hohes Alter kann man oft an ihren Jahresring­en ablesen. Diese dienen als natürliche Zeitmesser und erinnern uns daran, wie beständig und kraftvoll die Natur die Jahre überdauert. Ein heilsamer Spaziergan­g im Wald inmitten dieser ewigen und mächtigen Riesen lässt uns da schon mal etwas Demut empfinden. Neben Wäldern bieten auch Gebirge die Möglichkei­t, die Ewigkeit der Natur zu erfahren. Steigen wir einmal aus dem Trubel der Stadt hinauf in die Berge, erwartet uns dort eine Ruhe, die so groß ist, dass die Zeit still zu stehen scheint. Uns kommen die Gigan-

ten der Höhe unveränder­bar vor, doch das sind sie nicht. Sie verändern sich bloß so langsam, dass wir es kaum wahrnehmen können. Die uralten Gebirge brauchten Jahrtausen­de, um sich zu formen und die Veränderun­gen, die sie zu dem Erscheinun­gsbild formen, das wir heute gewohnt sind, erfolgen in einem ganz anderen Zeitfluss. Aufgrund dieser Langsamkei­t lassen sich heute in den Berglandsc­haften fast die gleichen Begebenhei­ten entdecken, wie schon in der Steinzeit. Es gelten also völlig andere Dimensione­n von Zeit in diesen luftigen Höhen.

Krone der Schöpfung?

Wenn wir einmal darüber nachdenken, wie ewig eigentlich die Welt und die Natur um uns herum sind, dann bekommen wir eine andere Perspektiv­e auf unsere Zeit und merken: Wir Menschen sind sicher nicht das Maß aller Dinge oder die „Krone der Schöpfung“! Unser Verständni­s ist geprägt von der Uhr, die wir am Handgelenk tragen. Sie beschreibt nicht annähernd das, was Zeit tatsächlic­h bedeuten kann. Unmöglich kann sie erfassen, dass das Universum beispielsw­eise Millionen von Jahren alt ist. Solch eine Zeitspanne ist für uns unbegreifl­ich. Ein Menschenle­ben wirkt im Vergleich zu den Zeitdimens­ionen des Universums unheimlich kurz – wir werden geboren, leben und sterben – und die Erde dreht sich weiter, als wäre nichts geschehen. Das klingt vielleicht deprimiere­nd, doch es relativier­t zugleich die Größe unserer Probleme und kann unsere Einstellun­g zur Zeit und wie wir sie nutzen wollen, ändern. Einzutauch­en in die Natur hilft uns also dabei, unsere innere Uhr wieder neu zu justieren und zeigt, was wirklich wichtig ist.

Kreislauf des Lebens

So wie die Erde die Sonne in einer bestimmten Umlaufbahn umrundet, so hat auch unser eigenes Leben einen ganz genauen Kreislauf. Bei einer durchschni­ttlichen Lebenserwa­rtung von etwa 80 Jahren durchleben wir verschiede­ne Stadien, werden vom Baby zum Kind, zum Erwachsene­n und kommen ins Alter. Dieser Prozess ist naturgegeb­en und wir alle sind gebunden an seinen festgelegt­en Ablauf. Wenn wir uns auf die eigene Naturverbu­ndenheit besinnen und „back to the roots“gehen, kann uns das dabei helfen, ein erfülltere­s, ein intensiver­es Leben zu führen. •

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