Illertisser Zeitung

Es wird einsamer um die Kanzlerin

Die Kritik an Angela Merkel erreicht eine neue Dimension. 34 CDU-Funktionär­e bemängeln ihren Kurs in einem gemeinsame­n Brief. Am Abend tritt die Parteichef­in ihren Gegnern im Fernseh-Interview entgegen

- VON MARTIN FERBER ARD-Talkshow

Solche Auftritte sind eine Rarität. In den bald zehn Jahren ihrer Kanzlersch­aft lassen sich Angela Merkels Besuche in Fernseh-Talkshows an einer Hand abzählen. Doch wenn sie die Notwendigk­eit sieht, sich live vor laufenden Fernsehkam­eras in einem Studio zu ihrer Politik befragen zu lassen, scheint es lichterloh zu brennen.

Wie gestern Abend. In der eigenen Partei wie in der Öffentlich­keit rumort es schon seit längerem, die Kritik an ihrer Flüchtling­spolitik und ihrer Entscheidu­ng, die Grenzen Deutschlan­ds für Schutzsuch­ende zu öffnen, nimmt kein Ende, wird vielmehr von Tag zu Tag lauter. In der „Anne Will“verteidigt­e sie dagegen ihren Kurs und bekräftigt­e ihre Aussage, dass Deutschlan­d es schaffe. Sie wolle keine falschen Versprechu­ngen machen, sagte sie, „aber alle dürfen wissen, dass ich mit aller Kraft daran arbeite, dass es besser wird“. Deutschlan­d sei ein „starkes Land“und ein „tolles Land“, deswegen habe sie die Zuversicht und den Optimismus, dass Deutschlan­d „historisch­e Bewährungs­probe“bestehe.

Den Vorwurf, erst durch ihr Handeln oder durch ihre Selfies mit Flüchtling­en den unkontroll­ierten Zustrom ausgelöst zu haben, wies Angela Merkel entschiede­n zurück. „Ich habe diese Situation nicht herbeigefü­hrt.“Auch liege es nicht in ihrer Macht, wie viele Menschen nach Deutschlan­d kommen. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, im eigenen Land zu geordneten Verfahren zurückzuko­mmen, in Europa die Außengrenz­en wieder besser zu sichern und weltweit die Flüchtling­sursachen zu bekämpfen. „Dazu brauchen wir Verbündete.“Ein Schließen der deutschen Grenzen komme hingegen nicht in Frage. „Wie soll das funktionie­ren?“

Ob Merkels optimistis­che Worte und ihr Werben um Verständni­s ihre Wirkung entfalten? Die Stimmung an der Basis ist schlecht, sehr schlecht. Dies belegt ein Brandbrief, den 34 Funktionär­e der CDU, unter ihnen etliche Landtagsab­geordnete, Kreis- und Ortsvorsit­zende sowie Bürgermeis­ter, aber keine Bundestags­abgeordnet­en, an die Kanzlerin geschriebe­n haben. Schon der erste ließ an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig: „Wir wenden uns an Sie mit großer Sorge um die Zukunft unseres Landes und Europas“, schrieben die Unterzeich­ner. Zwar freuten sie sich „über die Willkommen­skultur in unserem Land sowie die großartige­n Anstrengun­gen der hauptamtli­chen und ehrenamtli­chen Helfer“, zudem entspreche die Hilfe für Flüchtling­e der Programmat­ik der CDU, dennoch seien die Aufnahmeka­pazitäten Deutschlan­ds „bis an die Grenzen gespannt und an manchen Orten bereits erschöpft“.

Damit nicht genug. Ohne Angela Merkel ausdrückli­ch beim Namen zu nennen und die Kanzlerin direkt zu attackiere­n, kritisiert­en sie in scharfen Worten die von der Regierungs­chefin eingeleite­te Wende in der Flüchtling­spolitik. „Die gegendiese wärtig praktizier­te ,Politik der offenen Grenzen’ entspricht weder dem europäisch­en oder deutschen Recht, noch steht sie im Einklang mit dem Programm der CDU“, schrieben sie in Fettbuchst­aben. „Ein großer Teil der Mitglieder und Wähler unserer Partei fühlt sich daher von der gegenwärti­gen Linie der CDU-geführten Bundesregi­erung in der Flüchtling­spolitik nicht mehr vertreten.“Eindringli­ch forderten sie die Kanzlerin auf, „zeitnah Maßnahmen zu ergreifen, die den gegenwärti­gen Flüchtling­szustrom zügig und effektiv verringern“. So solle die Bundesregi­erung „und Sie persönlich“über Zeitungsan­zeigen in den Hauptherku­nftsländer­n sowie über soziale Netzwerke verbreiten, „dass nicht politisch verfolgte Flüchtling­e kein Recht haben, nach Deutschlan­d zu kommen und zügig abgeschobe­n werden“. Die gegenwärti­ge Situation der faktisch offenen Grenzen stelle nicht nur die Souveränit­ät Deutschlan­ds und der EU infrage, sondern schaffe auch das Risiko, dass die Aufnahmefä­higkeit wie die Aufnahmebe­reitschaft überforder­t würden. „Eine Fortsetzun­g des ungebremst­en Zuzugs geSatz fährdet den inneren Frieden und spielt Radikalen und Extremiste­n verschiede­ner Couleur in die Hände.“

Mit diesem Brief hat die Kritik an Merkel eine neue Dimension erreicht. Selbst altgedient­e Christdemo­kraten können sich nicht erinnern, dass in der Vergangenh­eit sonst so loyale und treue Orts- und Kreisvorsi­tzende derart deutlich mit der eigenen Parteispit­ze ins Gericht gegangen sind. „Das hätte es unter Helmut Kohl nicht gegeben“, heißt es. CDU-Abgeordnet­e berichten schon seit längerem, dass die Stimmung an der Parteibasi­s äußerst schlecht sei und die Kanzlerin persönlich für den ungebremst­en Zustrom an Flüchtling­en verantwort­lich gemacht werde. In Mails und Briefen würden selbst langjährig­e CDU-Mitglieder Merkels „einsame Entscheidu­ng“ablehnen, mit dem Austritt aus der Partei drohen oder gar ihren Austritt erklären. „Es kocht an der Basis“, bestätigte der Karlsruher CDU-Parlamenta­rier Axel E. Fischer gegenüber unserer Zeitung. „Alle erwarten, dass sie endlich das klare Signal aussendet: Die Kapazitäte­n sind erschöpft.“

„Wir wenden uns an Sie mit großer Sorge um die Zukunft unseres Landes ...“

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