Gabriel geht, Schulz kommt
Der SPD-Chef überlässt die Kanzlerkandidatur und den Parteivorsitz überraschend dem populären Europapolitiker. Wie es dazu kam und was aus ihm selbst werden soll
Das Rätselraten ist vorbei. Die SPD hat einen Kanzlerkandidaten. Und es ist nicht Sigmar Gabriel. Gestern Nachmittag hat der Parteichef allen Spekulationen ein Ende gesetzt – und was für eins. Der große Favorit hat sich selbst aus dem Rennen genommen. Stattdessen soll der 61-jährige Martin Schulz im Herbst die Kanzlerin herausfordern. Der frühere Präsident des Europäischen Parlaments ist nicht nur bei potenziellen SPD-Wählern wesentlich beliebter als Gabriel. Dass der Vizekanzler seine eigenen Ambitionen freiwillig aufgibt und Schulz auch den Parteivorsitz überlässt, ist dennoch ein überraschender Schachzug. Allerdings einer, den Gabriel – ansonsten eher für spontane Entscheidungen bekannt und gefürchtet – gut vorbereitet hatte.
Sämtliche Personalfragen, die sich mit seinem Verzicht auf die Kanzlerkandidatur stellen, sind jedenfalls schon geklärt: Schulz stellt sich heute Mittag in der SPD-Bundestagsfraktion vor. Und auch die Frage nach seiner eigenen Zukunft hat Gabriel gleich mitbeantwortet. Er will Nachfolger von Außenminister Frank-Walter Steinmeier werden, der am 12. Februar als Bundespräsident kandidiert. Gabriels Job an der Spitze des Wirtschaftsministeriums soll seine bisherige Staatssekretärin Brigitte Zypries übernehmen. Wahrscheinlich werden die beiden schon am Freitag im Bundestag vereidigt.
Am Ende war es eine bittere Einsicht, die den SPD-Chef zu seinem Rückzug veranlasste: die Erkenntnis, dass die Sozialdemokraten mit dem unverbrauchten Schulz an der Spitze bessere Chancen auf ein gutes Ergebnis bei der Bundestagswahl am 24. September haben als mit ihm. „Das, was ich bringen konnte, hat nicht gereicht“, sagte Gabriel in einem Interview mit dem und fügte ganz nüchtern hinzu: „Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.“
Als Parteivorsitzender war der 57-Jährige nie unumstritten. Seine oft sprunghafte Politik und gelegentliche Ausflüge in den Populismus waren vielen Genossen nicht geheuer. Gestern verneigte sich die Partei allerdings vor ihrem NochVorsitzenden – wenn auch erst nach einem kurzen Schreckmoment. Selten dürfte er von den Bundestagsabgeordneten so viel Beifall bekommen haben. „Dass er eigene Interessen zurückgestellt hat, um bessere Erfolgschancen für die SPD zu bekommen, verdient allergrößten Respekt“, sagte Fraktionschef Thomas Oppermann.
Gabriel selbst hatte eine Studie in Auftrag gegeben, um herauszufinden, wie SPD-Sympathisanten ihn und Schulz einschätzen. Das Ergebnis war eindeutig. Und Gabriel zog die Konsequenzen: „Die Partei muss an den Kandidaten glauben und sich hinter ihm versammeln, und der Kandidat selbst muss es mit jeder Faser seines Herzens wollen. Beides trifft auf mich nicht in ausreichendem Maße zu“, sagte er dem
Auch private Gründe dürften für ihn eine Rolle gespielt haben. Im März wird er zum zweiten Mal Vater und will sich eigentlich mehr Zeit für die Familie nehmen. Das verträgt sich nicht unbedingt mit den Strapazen eines Bundestagswahlkampfes. Erst recht dann nicht, wenn die Aussichten auf einen Erfolg so überschaubar sind.
Nun ruhen alle Hoffnungen der gebeutelten SPD auf dem leidenschaftlichen Europäer Schulz, der sich bisher aus der Bundespolitik weitgehend herausgehalten hat. Schulz sagte am Abend in der SPDZentrale, die Nominierung als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender sei „eine außergewöhnliche Ehre, die ich mit Stolz aber auch mit der gebotenen Demut annehme“.
„Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.“ Sigmar Gabriel
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