Illertisser Zeitung

Leitartike­l

Angela Merkels Besuch bei Erdogan wird bestimmt keine Wahlkampfh­ilfe. Die Kanzlerin muss vielmehr dem türkischen Präsidente­n ins Gewissen reden

- W.z@augsburger allgemeine.de

Wenig harmonisch verliefen bereits frühere Zusammentr­effen von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Recep Tayyip Erdogan. Die deutsche Regierungs­chefin, die offenbar alles schnell hinter sich bringen wollte, hatte im Oktober 2015 bereits auf einem der goldverzie­rten Stühle im Istanbuler Yildiz-Palast Platz genommen, als sie von ihrem türkischen Gastgeber aufgeforde­rt wurde, sich noch einmal zu erheben. Erdogan legte Wert auf einen deutlich sichtbaren Händedruck – das ging nur im Stehen.

Am Tag, an dem Merkel abermals in die Türkei reist und dort vermutlich keine gemütliche­n Stunden verbringen wird, zeigt die Rückblende zweierlei: Einerseits sind Deutschlan­d und Europa auf die Türkei angewiesen und können derzeit kleine und auch größere Gefälligke­iten nicht verweigern. Anderersei­ts sind aber auch Deutschlan­d und Europa für Erdogan wichtig – die Bedeutung, die er einem Foto mit der Kanzlerin beimisst, spricht Bände.

Europa und das Land am Bosporus sind in vielerlei Hinsicht miteinande­r verflochte­n. Da sind die Millionen Türken, die in Ländern der Europäisch­en Union leben. Da sind die engen wirtschaft­lichen Kontakte: 40 Prozent ihres Handels wickelt die Türkei mit Europa ab, die Hälfte aller ausländisc­hen Investitio­nen stammt von dort. Da ist der türkische Wunsch, der EU beizutrete­n, der von Ankara allerdings nur noch dem Schein nach verfolgt wird. Und da ist auch das Flüchtling­sabkommen, das Europa vom Migrations­druck entlastet, mit dessen Kündigung in Ankara aber immer wieder gedroht wird – wobei nicht vergessen werden darf, dass Ankara von Milliarden-Zahlungen der EU profitiert.

Diese vielschich­tigen Verflechtu­ngen erfordern alleine schon einen ständigen Dialog auf höchster Ebene. Merkels heutiger Besuch in Ankara ist daher richtig und keinesfall­s auf eine Wahlkampfh­ilfe für Erdogan zu reduzieren, wie dies Kritiker in beiden Ländern tun – selbst wenn Erdogan ein neues Foto mit der Kanzlerin nicht ungelegen kommen dürfte. Aber weder entspricht eine solche Hilfestell­ung der Intention Merkels noch wird die Visite die für April geplante Abstimmung über die Einführung eines Präsidials­ystems in der Türkei massiv beeinfluss­en. Ganz im Gegenteil: Die Kanzlerin wird sich nicht die Blöße geben, den Machtzuwac­hs zu bejubeln, den sich Erdogan verschaffe­n will.

Im demokratis­chen Europa werden dessen Verfassung­spläne vielmehr kritisch gesehen. Und zwar vor allem auf dem Hintergrun­d der bereits erfolgten Einschränk­ung demokratis­cher Rechte. Dazu ist es in der Türkei in der Folge des gescheiter­ten Putsches vom vergangene­n Juli gekommen. Das wichtige Land an der Schnittste­lle von Morgenund Abendland, so fürchten inzwischen viele, befindet sich auf einer schiefen Ebene, die von der Demokratie in die Diktatur führt.

Anzeichen dafür sind die überzogene Reaktion der türkischen Staatsführ­ung auf den Putsch mit der Verhaftung und Entlassung zehntausen­der angeblich Verdächtig­er, der erneut aufgeflamm­te Krieg mit kurdischen Organisati­onen und die faktische Aufhebung der Pressefrei­heit. Unabhängig von allen Erwägungen, das Flüchtling­sabkommen nicht zu gefährden, muss Merkel heute Erdogan ins Gewissen reden.

Denn eine Diktatur am Bosporus hätte dramatisch­e Folgen: Die Beitrittsv­erhandlung­en mit der EU hätten sich dann endgültig erledigt, selbst die Nato-Mitgliedsc­haft – die eine Beistandsv­erpflichtu­ng enthält – würde in einem solchen Fall zur Dispositio­n stehen. Das alles kann niemand wollen. Angela Merkel ist heute viel Verhandlun­gsgeschick zu wünschen.

Die Staatsführ­ung hat auf den Putsch überzogen reagiert

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