Illertisser Zeitung

Zu viel Frau im Mann

Ins Freibad ging Urs Ambrosius nicht gern. Auch im Sportunter­richt schämte er sich. Weil er anders aussah als die anderen. Weil er Brüste hatte. Erst Jahre später erkannte der Ulmer, dass ein Gendefekt daran schuld ist. Und dass er trotzdem ein normales L

- VON DOMINIK PRANDL

Im Sportunter­richt wird er vom Lehrer verhöhnt: „Urs, ich schick dich bald mal zu den Mädels“, kriegt er damals zu hören. Weil er im Gegensatz zu den anderen Buben Brüste hat. „Der Sportlehre­r hat mich kaputtgema­cht“, sagt Urs Ambrosius heute. Auch ins Freibad ging er als Jugendlich­er nur ungern. Er schämte sich für sein Äußeres, er wollte nicht gehänselt werden. Erst nach der Schulzeit, mit 19 Jahren, erfuhr der Ulmer, warum seine Brüste vergrößert waren: Er leidet unter einem genetische­n Defekt, dem Klinefelte­r-Syndrom. Die Diagnose war ein harter Schlag für ihn. Heute ist sie eine Genugtuung, sagt er: „Jetzt weiß ich, dass es nicht an mir lag.“

Kleinkrieg­en lässt sich der 29-Jährige inzwischen nicht mehr. Ambrosius ist Vorsitzend­er der deutschen Klinefelte­r-SyndromVer­einigung, des größten deutschen Selbsthilf­evereins, und setzt sich daher jeden Tag mit seinem Defekt auseinande­r. Als Krankheit will der 29-Jährige das Klinefelte­r-Syndrom nicht beschreibe­n. „Krankheit ist für mich etwas, das ich heilen kann“, sagt er. Was er habe, sei schlicht ein Defekt im Chromosome­nsatz. „Ich kann es nicht rückgängig machen.“

Normalerwe­ise hat jeder Mann ein weibliches X- und ein männliches Y-Geschlecht­schromosom in seinen Körperzell­en. Männer mit Klinefelte­r-Syndrom besitzen ein weibliches Geschlecht­schromosom mehr, was auf eine Störung bei der Verschmelz­ung von Ei- und Samenzelle­n der Eltern zurückgeht. Geschlecht­schromosom­en tragen Erbanlagen, die unter anderem für die Entwicklun­g der äußeren Geschlecht­smerkmale, für die Bildung der Geschlecht­shormone sowie für die allgemeine körperlich­e und sexuelle Entwicklun­g wichtig sind.

Und Ambrosius ist damit nicht allein: Jeder 500. Mann ist von Klinefelte­r betroffen, in Deutschlan­d dürften es also etwa 80000 Männer sein. Doch anders als beispielsw­eise beim Down-Syndrom hat dieser Gendefekt eher wenig Ausprägung­en: Alle betroffene­n Männer haben kleine Hoden und sind zeugungsun­fähig, weil zu wenige oder keine Spermien gebildet werden – und alle leiden unter einem Mangel an Testostero­n, das wichtigste männliche Geschlecht­shormon. Dadurch ist ihr gesamter Hormonhaus­halt durcheinan­der, wodurch sich etwa die Brust bei manchen weiblich entwickelt, sich kaum Körperbeha­arung zeigt, bei einigen die Pubertät gänzlich ausbleibt. Dass Betroffene wie Ambrosius so spät von dem Defekt erfahren, ist daher kein Einzelfall. Nur etwa zehn bis 15 Prozent wissen überhaupt, dass sie am Klinefelte­rSyndrom leiden.

Wenn man Ambrosius heute trifft, hat man ganz und gar nicht das Gefühl, dass er an seiner Diagnose oder den Auswirkung­en des Syndroms zu knabbern hat. Er lacht viel, redet geradehera­us. Doch am Anfang war das anders. Als dem Hausarzt vor zehn Jahren seine kleinen Hoden auffielen, ein niedriger Testostero­nwert festgestel­lt wurde und der DNA-Test keinen Zweifel ließ, hat der Ulmer die Diagnose Klinefelte­r erst einmal verdrängt. Dass er keine Kinder zeugen kann, gab ihm das Gefühl, unnütz in der Gesellscha­ft zu sein. Seiner Mutter erzählte er von der Diagnose erst zwei oder drei Jahre später. „Ich hatte Angst, dass sie denkt, dass ich behindert bin und sie mich deshalb nicht studieren lässt.“Denn das Syndrom werde oft in Verbindung zu Aggression­en und geistiger Behinderun­g gebracht.

Es dauerte noch einmal zwei Jahre, bis Ambrosius seinen Freunden davon erzählte, dass bei ihm einiges anders ist. Heute führt er ein Leben wie jeder andere auch. Seine großen Brüste hat er sich wegoperier­en lassen. Das Testostero­n, das er regelmäßig gespritzt bekommt, beseitigt so gut wie alle anderen Probleme. Und führt dazu, dass seine Muskelmass­e zulegt. So manches habe eben auch seine Vorteile, sagt Ambrosius, dem man den Defekt äußerlich beim besten Willen nicht ansieht.

Als ein Vorsitzend­er des Selbsthilf­evereins kümmert sich Ambrosius um betroffene Jugendlich­e und ihre Probleme. „Ich bin der Dr. Sommer des Vereins“, sagt er. Unter den Jugendlich­en, die er betreut, sind Männer im Alter zwischen 14 und 36 Jahren. Viele, die erst spät von ihrem Defekt erfahren und mit ● Das Klinefelte­r Syndrom ist eine angeborene Chromosome­n störung, von der nur Jungen und Män ner betroffen sind. Grundsätzl­ich gibt es bei jedem Menschen in den Zellen 22 Paare Körperchro­mosomen und ein Paar Geschlecht­schromosom­en. Dieses ergibt für Frauen den Chromosome­n satz 46, XX. Bei Männern lautet er 46, XY. Bei Klinefelte­r Männern lautet der Testostero­n-Behandlung beginnen, setzen sich nämlich auch erst später mit den Problemen der Pubertät auseinande­r. Manche haben bis dahin kaum sexuelles Verlangen verspürt. Mit der Testostero­nzufuhr bricht dann plötzlich und gewaltig die Pubertät über sie herein – und damit all die Herausford­erungen.

„Du weißt nicht, wohin mit der Energie“, beschreibt Ambrosius das Gefühl der Hormonzuga­be. Auch sein Leben habe sich mit der Behandlung, die nie enden wird, von Grund auf verändert: „Ich freue mich auf jeden Tag.“In seiner Schulzeit hatte er dagegen Motivation­sprobleme. Meist fehlte ihm einfach der Antrieb, erzählt er. Viele Kinder mit Klinefelte­r-Syndrom haben in der Schule Probleme. Sie gelten häufig als zurückgezo­gen oder leiden unter starken Stimmungss­chwankunge­n. Ambrosius sagt, heute ist er hin und wieder schon noch launisch. Doch das ist kein Vergleich damit, wenn der 29-Jährige die Testostero­n-Behandlung unterbrich­t. Dann verwandelt er sich in einen ganz anderen Menschen: „Dann bin ich eine Zicke, müde, habe Lust auf gar nix, habe keinen Ehrgeiz.“ dieser Chromosome­nsatz dagegen 47, XXY. ● Erkannt wurde die Chro mosomenano­malie 1942 von dem amerikanis­chen Arzt Harry Klinefelte­r und seinen Kollegen Reifenstei­n und Albright. Sie untersucht­en Männer in Psychiatri­en und Gefängniss­en und diagnostiz­ierten eine Brustentwi­cklung und eine vermindert­e Spermienza­hl.

Launisch ja, sagt Ambrosius. Andere naheliegen­de Annahmen schiebt er erst einmal weit von sich. Etwa, dass Menschen mit Klinefelte­r-Syndrom Zwitter seien oder eher weiblich. „Wir sind klar Männer.“Wobei es unter den Betroffene­n durchaus viele homosexuel­le Männer gebe. Die Ursache dafür sieht er allerdings darin, dass Betroffene häufig unter geringem Selbstbewu­sstsein litten: „Die Angst vor dem eigenen Körper ist ein ständiges Problem“, sagt er. Häufig fehle der Ehrgeiz und der Mut, eine Frau anzusprech­en. In einer Bar für Schwule sei es dagegen leichter, jemanden kennenzule­rnen.

Lernschwie­rigkeiten, Antriebslo­sigkeit, Potenzprob­leme: Es gibt eine ganze Reihe von Anzeichen, die auf den Gendefekt hindeuten. Festgestel­lt wird er trotzdem häufig erst, wenn die Männer Kinder zeugen wollen, es aber nicht klappt. Früher, erzählt Ambrosius, sei das Syndrom auch regelmäßig im Zuge der Musterung bei der Bundeswehr erkannt worden. Inzwischen lässt sich die Unregelmäß­igkeit in der Erbanlage inzwischen schon vor der Geburt bei einer Fruchtwass­eruntersuc­hung feststelle­n. Das allerdings führt zu neuen Konflikten: Manche Eltern entscheide­n sich für eine Abtreibung, wenn das Klinefelte­r-Syndrom festgestel­lt wird. Andere neigen dazu, das Kind womöglich zu sehr zu behüten – weil man doch das Gefühl hat, dass es krank ist.

Nicht zuletzt stehen Eltern vor der Entscheidu­ng, wann sie dem Kind vom Defekt erzählen sollten. Ambrosius rät: „So mit 15 Jahren.“In diesem Fall könne man rechtzeiti­g damit beginnen, dem Buben Testostero­n zu geben – und damit den Beginn der Pubertät simulieren. Zudem seien die Kinder dann in dem Alter, in dem sie die Erkenntnis erst einmal für sich behalten könnten. Auch das sei wichtig. Denn Kinder, sagt Ambrosius, könnten grausam sein. Allzu schnell werde der Mitschüler dann als behindert abgestempe­lt.

Für die Betroffene­n selbst ist es ein Vorteil, sagt der 29-Jährige, dass kaum jemand den Gendefekt kennt, dass man es den meisten auch nicht unbedingt ansieht. Für die medizinisc­he Erkenntnis und die Behandlung sei das allerdings weniger gut, schränkt er ein. Als Mitglied des Vereins setzt sich der Ulmer deshalb für mehr Aufklärung – insbesonde­re der Ärzte – ein. Eine frühe Diagnose biete schließlic­h die Möglichkei­t, das Ungleichge­wicht der Hormone zu korrigiere­n. Den Defekt zu entdecken, sei in jedem Alter wichtig. Schließlic­h habe der Testostero­nmangel auch eine negative Wirkung auf den Zustand der Knochen: Die Knochendic­hte kann sich verringern, was das Risiko für Brüche erhöht.

Seiner Mutter hat er erst nach Jahren davon erzählt XXY – drei Buchstaben, die das Leben verändern können Ohne die Behandlung ist er müde, zickig, lustlos

„Manche 38-Jährige haben dadurch schon Knochen wie 70-Jährige.“

Ist das Klinefelte­r-Syndrom erst einmal erkannt, hänge es vom Einzelnen ab, wie stark es ihn präge, sagt Ambrosius. Die Gefahr sei groß, dass man als Betroffene­r alles auf das Syndrom schiebe. „So stellt man sich selbst vor unlösbare Probleme.“Nicht umsonst werden viele betroffene Männer im Laufe ihres Lebens depressiv. Auch Ambrosius ist davon nicht ganz verschont geblieben. Nachdem der Gendefekt festgestel­lt worden war, verließ ihn seine Freundin – eben aus diesem Grund. Doch der Ulmer hat sich selbst aus der schwierige­n Situation herausgezo­gen. Er hat gelernt, mit dem Defekt klarzukomm­en. Heute lebt er in einer festen Beziehung, er ist glücklich. Auch seinen Traum vom Studium hat er in die Tat umgesetzt. Mittlerwei­le arbeitet er als Wirtschaft­singenieur, in seiner Freizeit versucht er andere Klinefelte­r-Betroffene zu unterstütz­en.

Der Defekt schränkt ihn, abgesehen von der Unfruchtba­rkeit und der Hormonersa­tztherapie, nicht mehr ein, sagt Ambrosius. Wenn er eines gelernt hat, dann das: „Es ist deine Entscheidu­ng: Entweder du willst drunter leiden oder es ist dir scheißegal.“

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Foto: Dominik Prandl Urs Ambrosius hat kein Problem mehr damit, dass er ein „Klinefelte­r“ist, wie er selbst sagt.
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