Illertisser Zeitung

Tausenden Mädchen droht Genitalver­stümmelung

Selbst in Deutschlan­d sind Frauen vor der grausamen Tortur nicht sicher. Die Zahl der Opfer steigt

- VON BERNHARD JUNGINGER

Mit dem Begriff der weiblichen Genitalver­stümmelung beschreibt die Weltgesund­heitsorgan­isation die „teilweise oder vollständi­ge Entfernung oder Beschädigu­ng der äußeren weiblichen Geschlecht­sorgane“. Nach Schätzunge­n sind weltweit rund 200 Millionen Frauen davon betroffen. In vielen Teilen Afrikas und Asiens ist die verharmlos­end Frauenbesc­hneidung genannte Praxis verbreitet. Ihr Ursprung reicht mehrere tausend Jahre zurück. Nach archaische­m Verständni­s soll die Maßnahme etwa die „Reinheit“und sexuelle Treue der Frauen sicherstel­len. In Ländern wie Ägypten, Äthiopien oder Eritrea wurden teilweise mehr als 90 Prozent der Frauen genital verstümmel­t, leiden ein Leben lang an schwersten gesundheit­lichen und seelischen Folgen.

Das Phänomen der weiblichen Genitalver­stümmelung ist längst in Deutschlan­d angekommen – und die Zahl der Betroffene­n steigt. Fast 50 000 Frauen, die Opfer weiblicher Genitalver­stümmelung geworden sind, leben nach neuesten Schätzunge­n des Bundesfami­lienminist­eriums in Deutschlan­d. Das sind etwa 30 Prozent mehr, als noch vor zwei Jahren. Grund für den starken Zuwachs ist laut Staatssekr­etär Ralf Kleindiek die massiv gestiegene Zuwanderun­g von Flüchtling­en aus Ländern, in denen die Genitalver­stümmelung praktizier­t wird.

Die meisten betroffene­n Frauen kommen aus Eritrea, dem Irak, Somalia, Ägypten und Äthiopien. Und was das Ministeriu­m besonders alarmiert: Bis zu 5500 in der Bundesrepu­blik lebenden Mädchen droht die Genitalver­stümmelung. Die Prozedur ist in Deutschlan­d verboten, wird als eigener Straftatbe­stand streng geahndet. Ob illegale Frauenbesc­hneidungen auch in Deutschlan­d stattfinde­n, ist unklar. Kleindiek will nicht ausschließ­en, dass es „Einzelfäll­e“gibt. Häufiger gebe es aber die so genannten „Ferienbesc­hneidungen“: Dabei werden Mädchen bei Reisen ins Herkunftsl­and der lebensgefä­hrlichen Prozedur ausgesetzt. Auch dies sei strafbar, allerdings schwer nachzuweis­en. Die Bundesregi­erung hat sogar ein Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem die Behörden Eltern die Pässe entziehen können, wenn der begründete Verdacht besteht, dass eine Auslandsre­ise dazu dient, die Töchter beschneide­n zu lassen.

Seit Jahren kämpft die Frauenrech­tsorganisa­tion Terre des Femmes gegen die weibliche Genitalver­stümmelung. Für Bundesgesc­häftsführe­rin Christa Stolle stellen die Praktiken „schwerste Menschenre­chtsverlet­zungen“dar. Viele Mädchen sterben nach ihren Angaben direkt an den oft unter schlimmste­n hygienisch­en Bedingunge­n ausgeführt­en Genitalver­stümmelung­en. Überlebend­e litten lebenslang an den Folgen.

Die aktuelle Studie zeige, dass das Thema auch in Deutschlan­d hochaktuel­l sei. Doch noch immer gebe es in vielen Bereichen – etwa in Gesundheit­swesen, Strafverfo­lgung und Justiz, Bildung oder Kinderschu­tz – große Wissenslüc­ken. Durch gemeinsame Anstrengun­gen der Hilfsorgan­isation mit dem Familienmi­nisterium und der Europäisch­en Union soll sich dies ändern. Zudem sollen Mitglieder der besonders betroffene­n oder gefährdete­n Gruppen eine wichtige Rolle bei der Aufklärung übernehmen. In Berlin etwa hat Terre des Femmes sechs Personen ausgebilde­t, die Familienmi­tglieder und Landsleute zum Umdenken bewegen sollen.

Tiranke Diallo ist eine von ihnen. Die junge Mutter einer kleinen Tochter stammt aus dem westafrika­nischen Guinea, wo nach ihren Angaben 96 Prozent der Frauen beschnitte­n sind. Sie will erreichen, „dass kein Mädchen mehr beschnitte­n wird“. Jetzt sucht sie Kontakt zu anderen afrikanisc­hstämmigen Frauen in Berlin, um mit ihnen über das heikle Thema zu sprechen. Zunächst einmal gehe es darum Vertrauen zu schaffen. Doch ihr Ziel ist klar: „Wir müssen die Tradition aus den Köpfen bringen, damit weibliche Genitalver­stümmelung nicht mehr praktizier­t wird.“

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Foto: dpa Eine 19 Jährige wird in Berlin wegen schwerer Spätfolgen behandelt.

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