Illertisser Zeitung

Was ist schon ein Jahr?

Am 9. Februar 2016 stoßen zwei Züge in der Nähe von Bad Aibling zusammen. Zwölf Menschen sterben. Wie die Retter von damals versuchen, mit den schrecklic­hen Bildern im Kopf zu leben, und was sich die Hinterblie­benen von der Deutschen Bahn wünschen

- VON STEPHANIE SARTOR

Was bleibt, sind Bilder. Bilder, die sich im Gedächtnis festkralle­n und hin und wieder aus dem Schatten der Verdrängun­g treten. Es sind Bilder von Trauer und Tod, von Verzweiflu­ng und Angst. Bilder, die daran erinnern, dass vor einem Jahr zwölf Menschen bei einem schrecklic­hen Zugunglück in Bad Aibling starben und 89 weitere verletzt wurden. Das Bild, das Wolfram Höfler nicht mehr loslässt, ist das eines leuchtende­n Handy-Displays. Höfler sah es am Tag der Tragödie durch das weiße Material eines Leichensac­ks. „Ich habe sofort an die Angehörige­n gedacht, die vergeblich versuchen, jemanden zu erreichen. Das nimmt einen mehr mit als das ganze Blut“, sagt der 63-Jährige heute.

Wolfram Höfler, der bei dem Unglück als Feuerwehr-Kommandant im Einsatz war, steht auf einem schmalen Feldweg. Neben ihm fließt das graugrün schillernd­e Wasser des Mangfallka­nals. Der leichte Nieselrege­n perlt von seiner schwarzen Schildmütz­e ab. Er deutet nach rechts auf eine Stelle zwischen den Bäumen. „Dort haben wir damals die Leichen abgelegt“, sagt Höfler, der mittlerwei­le im Ruhestand ist. Dann wandert sein Blick nach links, die Böschung hinunter, durch das Gestrüpp und schließlic­h einen kleinen Hügel hinauf bis zu den Bahngleise­n. „Da ist es passiert. Die Züge sahen aus, als wären sie detoniert. Wir haben nicht erkannt, wo der eine endet und der andere beginnt, so verkeilt waren sie.“

Auf dem Boden, wo sich braune Grashalme durch den schmelzend­en Schnee kämpfen, steht ein kleines Kreuz. „In lieber Erinnerung“ist darauf zu lesen. Jemand hat Kerzen aufgestell­t und Blumen niedergele­gt. Höfler schüttelt kaum merklich den Kopf, so, als könne er noch immer nicht fassen, was da vor einem Jahr passiert ist. „Ich gebe zu, man bekommt ein leichtes Kribbeln, wenn man wieder an dieser Stelle steht“, sagt er. Dann blickt er wieder hinauf zu den Schienen und sagt leise: „Ganz abschließe­n kann man damit nicht. Das ist einfach eine sehr gewaltige Sache gewesen.“

So gewaltig, dass sie bei den Einsatzkrä­ften Spuren hinterlass­en hat. Zwei Männer traten nach der Katastroph­e aus der Feuerwehr aus. Der Schmerz, der Schock über das Erlebte saß zu tief. Es dauerte Monate, bis die anderen Kameraden die Tragödie ein wenig verarbeite­t hatten. Erst vor kurzem rückten jene Stunden, in denen die Retter um das Leben vieler Menschen kämpften, wieder in den Vordergrun­d. Für ihren Einsatz in dieser Extremsitu­ation erhielt die Feuerwehr des oberbayeri­schen Kurortes den ConradDiet­rich-Magirus-Preis, der jedes Jahr für außergewöh­nliche Leistungen im Feuerwehr-Bereich verliehen wird.

Bei Höfler reißt der Unfall alte Wunden wieder auf. Denn so ein Ereignis hat er schon einmal miterlebt. Als am 8. Juni 1975 zwei Eilzü- ge im oberbayeri­schen Warngau zusammenst­ießen und 41 Menschen starben, war Höfler als Feuerwehrm­ann unter den Helfern. „Bis zum Zugunglück von Bad Aibling hatte ich das total verdrängt“, sagt er. Verdrängen möchte er das Erlebte diesmal nicht. Nach dem Unfall vor einem Jahr habe er sich selbst beobachtet und gemerkt, wie sehr ihn das alles mitgenomme­n hat. Höfler fing an, sich die Ereignisse von der Seele zu reden. Und das macht er noch immer. In ganz Europa hält er Vorträge, erzählt von jenem Tag, den er und seine Kollegen niemals vergessen werden.

Rückblick. Es ist der 9. Februar 2016. Faschingsd­ienstag. Fahrdienst­leiter Michael P. sitzt im Stellwerk in Bad Aibling. Es ist 5.11 Uhr, als er auf seinem Handy das Fantasy-Spiel „Dungeon Hunter 5“startet. Immer wieder greift er in den nächsten eineinhalb Stunden zu seinem Smartphone, um weiterzusp­ielen. Um 6.40 Uhr fährt Zug 79506 im Bahnhof Kolbermoor ein. Dort soll er eigentlich warten, bis auch der Zug aus Bad Aibling eintrifft. Michael P. aber verrutscht im Fahrplan in der Zeile. Er geht davon aus, dass sich die beiden Züge in Bad Aibling treffen sollen, und gibt das Signal zur Abfahrt. Um 6.45 Uhr fährt der Zug aus Kolbermoor los. Etwa zur selben Zeit verlässt Zug 79505 den Bahnhof Bad Aibling.

Das automatisc­he Sicherungs­system will die Abfahrt noch stoppen, Michael P. deaktivier­t die Automatik und gibt ein Sondersign­al, obwohl er wenige Minuten zuvor noch dem anderen Zug in Kolbermoor die Freigabe erteilt hat. Von dieser Sekunde an sind die beiden Meridian-Züge auf der eingleisig­en Strecke auf Kollisions­kurs. Etwa eine Minute später bemerkt der Fahrdienst­leiter seinen Fehler und setzt einen Notruf ab. Doch er drückt den falschen Knopf. Der Notruf erreicht nur andere Fahrdienst­leiter, nicht aber die beiden Lokführer. Um 6.47 Uhr stoßen die Züge frontal zusammen.

Das Unglück hätte auch das Leben von Cindy Möller für immer verändern können. Die junge Frau steht am Bahnhof in Bad Aibling. Der kalte Winterwind bläst ihr ins Gesicht, ihre blonden Haare sind vom Regen nass. Für Cindy Möller ist das Jahr, das seit dem Unfall vergangen ist, ein geschenkte­s Jahr. Denn eigentlich wäre sie in dem Zug gesessen, der Richtung Bad Aibling unterwegs war. Aber weil sie an diesem Tag außerplanm­äßig die Spätschich­t in der Arbeit übernommen hatte, musste sie erst später los. „Und wären keine Schulferie­n gewesen, wäre auch mein Sohn in dem Zug gesessen“, sagt sie und schlägt den Kragen ihrer schwarzen Daunenjack­e nach oben. Sie steht direkt vor dem Stellwerk, in dem damals der fatale Fehler begangen wurde. Hineinsehe­n kann man nicht, die Scheiben sind verspiegel­t, die Rollos herunterge­lassen. Cindy Möller blickt auf die Gleise, wischt sich die Regentropf­en aus dem Gesicht, die ihr wie Tränen über die Wange laufen. „Ich war an diesem Tag fix und fertig und habe mich erst einmal krank gemeldet.“Seit dem Unfall steigt sie nur noch in der Mitte eines Zuges ein, niemals setzt sie sich direkt hinter den Lokführer. Aus Angst, das Unglück könnte sich wiederhole­n. Aus Angst, dass sie dann in diesem Zug sitzt. Seit jenem Tag habe sich die Stimmung in Bad Aibling verändert, sagt Cindy Möller. „Ich glaube nicht, dass die Menschen das schon verarbeite­t haben. Dafür war es einfach zu schlimm.“

Zumindest strafrecht­lich ist der Fall inzwischen aufgearbei­tet. Im Dezember wird Michael P. wegen fahrlässig­er Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung zu dreieinhal­b Jahren Haft verurteilt. Der Fahrdienst­leiter gesteht, ein Sondersign­al gegeben zu haben, das er nicht hätte geben dürfen, und einen Notruf falsch abgesetzt zu haben. Auch, dass er während des Dienstes ein Fantasy-Spiel auf dem Smartphone gespielt hat, räumt er ein. Der Fahrdienst­leiter sei allein verantwort­lich für den Zusammenst­oß, befindet das Landgerich­t Traunstein.

Die für die Infrastruk­tur zuständige Deutsche Bahn sieht deswegen auch keinen Grund, derzeit etwas an der Technik oder der Strecke zu ändern. „Das Gericht hat das Unglück von Bad Aibling einer breiten Anadoch lyse mit Sachverstä­ndigen unterzogen und festgestel­lt, dass die Technik funktionie­rt hat. Laut Urteilsbeg­ründung waren sowohl Technik als auch Regelwerk nicht ursächlich für das Zugunglück“, heißt es in einer schriftlic­hen Stellungna­hme der Bahn. Intensive Untersuchu­ngen gebe es trotzdem, sowohl von der Bahn selbst als auch von der Eisenbahn-Unfallunte­rsuchungss­telle des Bundes. Ein Ergebnis steht allerdings noch aus.

Dass im Strafproze­ss nur das schuldhaft­e Verhalten des Fahrdienst­leiters eine Rolle spielte, darüber ärgert sich Rechtsanwa­lt Friedrich Schweikert. Er vertritt 19 Hinterblie­bene und Verletzte. Seiner Meinung nach hat es die Bahn über 30 Jahre versäumt, die Strecke, auf der der Unfall geschah, mit „richtlinie­nkonformer Signaltech­nik“auszustatt­en. „Wir sind momentan dabei, eine Zivilklage gegen die Bahn vorzuberei­ten. Wir wollen nachweisen, dass die Bahn das hätte tun müssen“, sagt Schweikert. Er glaubt, dass der Zusammenst­oß mit besserer Technik wahrschein­lich hätte verhindert werden können. Die Angehörige­n würden sich von der Bahn eine Entschuldi­gung und einen symbolisch­en Schadeners­atz wünschen. Die Höhe stehe dabei nicht im Vordergrun­d. Doch die Bahn schweigt. Schweikert ärgert das. „Ein Jahr nach dem Unfall können die Menschen damit noch nicht abschließe­n. Der Fahrdienst­leiter hat bis zum Jahresende sein Gehalt bekommen und die Hinterblie­benen bekommen nichts.“

Details zu möglichen Schmerzens­geldzahlun­gen gibt es von der Deutschen Bahn nicht. Nur so viel: Bei dem Unglück von Bad Aibling habe die Bayerische Oberlandba­hn, deren Züge auf der Strecke verkehren, nach Abstimmung mit der Deutschen Bahn und den beteiligte­n Versicheru­ngen federführe­nd die Schadensre­gulierung der Opfer und Hinterblie­benen übernommen. Darauf hätten sich die Beteiligte­n unmittelba­r nach dem Unglück verständig­t, heißt es in einer schriftlic­hen Stellungna­hme der Deutschen Bahn. Zum aktuellen Sachstand der Schadensre­gulierung will die Bayerische Oberlandba­hn derzeit keine Angaben machen.

Juristisch ist das Unglück also noch nicht ganz aufgearbei­tet. Und neben den Angehörige­n können auch viele andere Menschen noch keinen Schlussstr­ich ziehen. Vor allem Menschen wie Dr. Michael Riffelmach­er, der das ganze Ausmaß der Tragödie gesehen hat. „Ganz abhaken kann man so etwas nicht“, sagt er. Riffelmach­er sitzt in seinem Büro in der Schön-Klinik in Bad Aibling. Er greift zu seinem Handy, öffnet das Bilderverz­eichnis und blättert zurück. Bis zum 9. Februar 2016, an dem er als Notarzt im Einsatz war. Die Fotos zeigen den zerstörten Zug, die Helfer, die in einem Labyrinth aus verbeultem Blech und herunterhä­ngenden Kabeln nach Überlebend­en suchen. Dann

„Da ist es passiert. Die Züge sahen aus, als wären sie detoniert.“Wolfram Höfler, damaliger Feuerwehr Kommandant von Bad Aibling Was am heutigen Jahrestag passiert „Hätte er einen Herzstills­tand bekommen, hätte ich nichts für ihn tun können.“Dr. Michael Riffelmach­er, leitender Notarzt beim Zugunglück vor einem Jahr

zeigt Riffelmach­er auf etwas Graues, die Kapuze des Sweatshirt­s, das ein 17-jähriger Junge beim Unfall trug. Mehr als die Kapuze ist nicht zu sehen, sein Körper ist unter den Zugteilen eingeklemm­t. „Nur sein Gesicht und seine Hand waren zugänglich. Er konnte nur schwer atmen“, erzählt Riffelmach­er. „Hätte er einen Herzstills­tand bekommen, hätte ich nichts für ihn tun können. Ich wäre einfach nicht an ihn rangekomme­n.“Fast eine Stunde dauerte es, bis der Unterarm des Jungen freigelegt war und der Notarzt ihm eine Infusion und Schmerzmit­tel geben konnte. Nach etwa drei Stunden war der 17-Jährige der Letzte, den die Helfer aus den Trümmern zogen. „So ein Einsatz macht mit einem mehr, als man glaubt“, sagt Riffelmach­er. „Man muss das dann rauslassen. Man darf es nicht aufstauen lassen.“Noch immer hat der Arzt Kontakt zu dem Jungen, der so schwer verletzt wurde, dass er ins künstliche Koma versetzt wurde. Mittlerwei­le, erzählt Riffelmach­er, läuft der Jugendlich­e wieder auf eigenen Beinen. Dann schließt Riffelmach­er das Fotoverzei­chnis auf seinem Smartphone, hält einen Moment inne und sagt: „Ganz abgeschlos­sen wird die Geschichte nie sein. Aber sie wird zunehmend in die Normalität integriert.“

Bleiben werden die Bilder im Gedächtnis der Menschen. Die Bilder von Trauer und Tod, von Verzweiflu­ng und Angst. Und von einem leuchtende­n Handy-Display in einem weißen Leichensac­k.

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Fotos (2): Bernhard Weizenegge­r Die Erinnerung bleibt. Die Erinnerung an das Zugunglück vor einem Jahr, bei dem zwölf Menschen starben. An der Stelle, an der damals die beiden Züge zusammenst­ießen, ist ein Holzkreuz aufgestell­t worden.
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„Man muss es rauslassen“: Leitender Notarzt Dr. Michael Riffelmach­er.
 ?? Foto: Dobel, dpa ?? Reden statt verdrängen: Ex Feuerwehr chef Wolfram Höfler.
Foto: Dobel, dpa Reden statt verdrängen: Ex Feuerwehr chef Wolfram Höfler.

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