Illertisser Zeitung

„Nummer 439, vortreten!“

Alexander J. Probst war bei den weltberühm­ten Regensburg­er Domspatzen. Und wurde missbrauch­t. Was er von Papst-Bruder Georg Ratzinger und Kardinal Müller hält. Und warum er jetzt mit der Vergangenh­eit abschließe­n will

- Was empfanden Sie dabei? Auch nicht 2011? Interview: Daniel Wirsching

Herr Probst, wie oft haben Sie in den vergangene­n Jahren eigentlich erzählt, dass Sie in Vorschule und Internat der Regensburg­er Domspatzen körperlich misshandel­t und sexuell missbrauch­t worden sind?

Male. Bestimmt hunderte

Als befreiend habe ich das immer schon empfunden. Mittlerwei­le sehe ich es vor allem als Aufklärung und als Hilfe dazu an, dass so etwas nicht mehr passiert.

Sie sind 2010 mit Ihrer Geschichte an die Öffentlich­keit gegangen. Nun haben Sie ein Buch geschriebe­n, mehr als 200 Seiten lang. Warum?

Dafür gibt es zwei Gründe. Irgendwann muss jeder Betroffene einmal mit seiner Geschichte abschließe­n. Wer das nicht kann, an dem wird die Vergangenh­eit immer und immer und immer nagen.

Das Buch ist ein Stück weit Therapie?

Ganz klar, das ist es. Profession­elle psychologi­sche Hilfe hatte ich nie, aber meine Freunde und Kollegen hatten viel Verständni­s für mich: Ich konnte mit ihnen darüber reden. Der zweite Grund für das Buch war: Vielleicht kann ich damit manchen noch dazu bringen, sich jemandem anderen zu öffnen. Manchen, der bislang schweigt, der Angst hat, der sich schmutzig fühlt.

Sie waren acht Jahre alt, als Ihre Leidenszei­t begann.

Schon in den ersten beiden Tagen in der Vorschule der Regensburg­er Domspatzen in Etterzhaus­en gab es beim morgendlic­hen Antritt die ersten Ohrfeigen: „439, vortreten!“

Sie wurden mit einer Nummer angesproch­en?

In der Zusage, dass ich an der Schule aufgenomme­n werde, hieß es: In jedes Kleidungss­tück, in jedes Handtuch, in jeden Waschlappe­n sind Nummern einzunähen. Ich erhielt die Nummer 439.

Fühlten Sie sich wie im Gefängnis?

Zumindest war ich anfangs lieber dort als zu Hause. Dort war ich unter gleichaltr­igen Jungs. Mein Vater und seine neue Frau wollten mich loshaben. Sie wollten ein ruhiges Leben führen, ohne auf mich und meine Schwester aufpassen zu müssen. Das bekam ich zu spüren. Ich bin aber vom Regen in die Traufe geraten: In Etterzhaus­en wollte man das Kindsein an sich nicht haben.

Haben Sie inzwischen eine Erklärung gefunden, warum ausgerechn­et in einer katholisch­en Einrichtun­g nicht Nächstenli­ebe, sondern Gewalt gelebt wurde?

Nein. Und diese Antwort gibt es auch nicht für mich. Ich suche sie nicht mehr. 2010 bin ich aus der Kirche ausgetrete­n.

Sind Sie auch selbst gewalttäti­g geworden, so wie andere Schüler?

Ich habe die Uhr eines Mitschüler­s absichtlic­h fallen lassen, ein Dumme-Jungen-Streich, würde ich heute sagen. Andere wurden tatsächlic­h gewalttäti­g in diesem System der Gewalt. Ich habe gerauft, wie Jungen in dem Alter eben raufen, aber ich habe nicht brutal zugeschlag­en.

Im Herbst informiert­en Sie mit dem Regensburg­er Bischof Rudolf Voderholze­r die Öffentlich­keit über den Stand der Aufarbeitu­ng. Demnach haben sich 422 mögliche Opfer gemeldet, zwischen 1953 und 1992 kam es in Vorschule und Internat des berühmten Knabenchor­s in hunderten Fällen zu körperlich­er und sexueller Gewalt.

Bischof Voderholze­r setzt sich glaubhaft für uns Opfer ein, das ist mein Eindruck. Er hat das Bedürfnis, die Dinge zu befrieden. Das habe ich auch: Man muss irgendwann Frieden finden.

Frieden finden – auch mit Voderholze­rs Vorgänger Gerhard Ludwig Müller? Sie wollten mit ihm sprechen.

So ein Gespräch gab es noch nicht, und ich zweifle auch daran, dass es eines geben wird. Uns Opfern wäre wichtig, dass er uns glaubhaft macht, dass er sich mit dem ganzen Ausmaß des Missbrauch­sskandals ehrlich befasst.

Müller war von 2002 bis 2012 Regensburg­er Bischof, heute ist er als Präfekt der Glaubensko­ngregation im Vatikan oberster Glaubenshü­ter der katholisch­en Kirche. Was werfen Sie ihm vor?

Nichtstun. Und: Er hat die Opfer als Beschmutze­r seines Bistums dargestell­t.

Erst kürzlich sprach Müller von „gezielt verbreitet­en postfaktis­chen Behauptung­en“– er habe die Aufklärung weder verzögert noch verhindert.

lachen. Ich kann darüber nur noch

Wann wird der Regensburg­er Rechtsanwa­lt Ulrich Weber, der als unabhängig­er Sonderermi­ttler tätig ist, seinen Abschlussb­ericht vorlegen?

Ich rechne damit in den nächsten Wochen. Er dürfte seinen Bericht fast fertig haben, ich bin sehr gespannt. Wahrschein­lich haben sich bei ihm weitere Opfer gemeldet.

Wird sich sein Bericht auch mit Georg Ratzinger befassen? Der Bruder des emeritiert­en Papstes Benedikt XVI. war als Domkapellm­eister von 1964 bis 1994 „Chef“der Domspatzen.

Er wird vorkommen, da bin ich mir sicher. Ratzinger wusste de- finitiv vom körperlich­en und sexuellen Missbrauch. Ein Regensburg­er Historiker wird zudem in einer Studie Ratzingers Rolle genauer untersuche­n.

Sie haben Ratzinger zwischen 1968 und 1972 erlebt. Sie waren als Internatss­chüler im Palestrina-Chor, den er leitete. Sie werfen ihm unter anderem vor, dass er mit einem Klavierstu­hl, einem Metronom, mit Tellern und Kerzenstän­dern nach Kindern, auch nach Ihnen, schmiss.

Er hat mich auch verprügelt. Und einmal hat er mir die Haare ausgerisse­n, derart heftig, dass ich eine Fünf-Mark-Stück große kahle Stelle auf dem Kopf hatte. Ich hab die Haare aufgesamme­lt und in einen Geldbeutel gesteckt. Ich hab die Haare jahrelang aufgehoben.

Sie unterstell­en ihm im Buch, dass es ihm Spaß machte, Kinder zu schlagen.

Er war cholerisch und hatte eine sadistisch­e Ader.

Georg Ratzinger räumte ein, Ohrfeigen verteilt zu haben. Von sexuellen Missbrauch­sfällen habe er „überhaupt nichts gehört“, sagte er vor einem Jahr.

Und er sagte, dass er sich nicht erinnern könne. Dazu fällt mir nichts mehr ein.

Sie waren elf Jahre alt, als Sie sich Ihrem Vater anvertraut­en. Nahm er Sie sofort aus dem Internat?

Ja, und zuvor hatte er eine Auseinande­rsetzung mit Georg Ratzinger. Ich stand vor der Tür und hörte, dass es sehr laut wurde. Mein Vater war knapp davor, dass er zuschlug, glaube ich. Er hat darüber aber nie gesprochen.

Im Buch beschreibe­n Sie auch, wie Sie Klavierspi­elen lernten.

Man hat uns das Klavierspi­elen eingeprüge­lt. Ich habe es Anfang der 2000er Jahre nochmals probiert, ich konnte es nicht. Ich bin blockiert. Seit ich bei den Domspatzen rausgekomm­en bin, konnte ich kein Klavier mehr anfassen.

Bis auf einen Präfekten sind alle bekannten mutmaßlich­en Täter – was die Sexualdeli­kte betrifft – gestorben. Er arbeitete im Internat bis 1972 als studentisc­he Hilfskraft und heißt in Ihrem Buch „Cornelius Hafner“.

Ich werde künftig, etwa bei Fernsehauf­tritten, wieder seinen wahren Namen nennen. Im Buch heißt er aus juristisch­en Gründen „Hafner“. Er hat mich rund 200 Mal sexuell missbrauch­t, und nicht nur mich. Noch 2010 und 2011 zeigte er kein Einsehen oder Unrechtsbe­wusstsein, ganz im Gegenteil. Er hat sich niemals entschuldi­gt.

Nein. Damals rief er mich an, es war ein kurzes Gespräch. Er hat mir vorgeschla­gen, ein gemeinsame­s Buch über unsere schöne Zeit bei den Domspatzen zu schreiben. Er sagte wirklich: „schöne Zeit“!

„Hafner“wurde 1978 in Eichstätt zum Priester geweiht und war im Bistum Eichstätt Pfarrer. Im März 2010 entband ihn Bischof Hanke von seinen seelsorgli­chen Aufgaben und priesterli­chen Vollmachte­n. Er ist heute Ende 60 und lebt nach meinen Informatio­nen außerhalb des Bistums Eichstätt. Was verlangen Sie von ihm?

Ach ... Ich hoffe vor allem, dass er nie mehr mit Kindern arbeiten darf. Der Institutio­n Kirche kann ich ja nicht vergeben, aber ich habe einzelnen Tätern von damals vergeben. Wem ich nie vergeben werden kann, das ist einem Kinderschä­nder. Auf der anderen Seite: Irgendwann muss Schluss sein.

mit Daniel Bachmann: Von der Kirche missbrauch­t. Riva, 207 Seiten, 19,95 Euro. Das Buch erscheint am 13. Februar.

Alexander J. Probst

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Foto: Alexander J. Probst Alexander J. Probst als Kind. „Der Institutio­n Kirche kann ich ja nicht vergeben“, sagt er. „Aber ich habe einzelnen Tätern von da mals vergeben.“
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