Illertisser Zeitung

Vier Mal Leben

Wie beeinfluss­t der Zufall eine Biografie? Paul Auster erzählt in seinem Großwerk „4 3 2 1“die Geschichte eines jungen Amerikaner­s in vier Variatione­n. Er nennt es „das Buch seines Lebens“

- VON STEFANIE WIRSCHING

Dies ist einer der Romane, bei denen man als Leser nicht hinterherk­ommt, Sätze anzustreic­hen oder zu notieren. Bei dem man über kaum eine der Seiten schnell hinweglese­n möchte – aber weil es 1259 Seiten sind, es gelegentli­ch dann doch tut. Ein Roman, der gerade davon lebt, dass er den Leser verwirrt und gelegentli­ch auch grandios überforder­t. Was der Leser aber am Ende sicher weiß: Dass er mit Archie Ferguson, geboren 1947, einen neuen Helden hat, der ihm bleiben wird. Und dass er einen schöneren, feineren und klügeren Roman in diesem Bücherfrüh­ling vermutlich nicht lesen wird als „4321“, geschriebe­n von Paul Auster. Und damit, Schluss der langen Vorrede, hinein ins Werk, das der amerikanis­che Schriftste­ller, vor wenigen Tagen 70 Jahre alt geworden und eigentlich notorisch unzufriede­n mit seiner Arbeit, das „Buch seines Lebens“nennt.

Was wäre, wenn. Darum kreist der Roman in seiner ganzen gigantisch­en Länge. Und schon auf der ersten Seite wird das Thema vorgegeben, bedient sich Auster, wenn man ihm da trauen darf, eines alten jüdischen Witzes. Da steht der Großvater des Helden Archie vor einem Beamten der Einwanderu­ngsbehörde auf Ellis Island und versucht sich an den Namen zu erinnern, den er auf Rat eines Landsmanne­s nun angeben soll. „Rockefelle­r. Damit kannst du nichts falsch machen.“Aber nun will ihm dieser tolle Name, der eine glorreiche Zukunft im neuen Land verheißt, nicht mehr einfallen, und so sagt der Großvater verzweifel­t auf Jiddisch: „Ich hob fargessen“. Und der Beamte notiert als Namen „Ichabod Ferguson“. Klar, kann das schon mal nichts mehr werden. Kein Rockefelle­r also, sondern ein Wicht namens Ferguson, der sich bis zu seinem Tod mit Hilfsarbei­ten durchschlä­gt. Aber der Enkel Archie ist eine Granate. Und wäre als Rockefelle­r womöglich ein elender Langweiler geworden! Aber wer weiß?

Was wäre, wenn. Paul Auster spielt den Gedanken in vier Variatione­n durch, vier Romane, die sich zu einem fügen, und in jedem einzelnen schildert er das Leben von Archie Ferguson in einer anderen Version. Immer verbringt er seine Jugend in einer Vorstadt von New York, mal in einer Wohnung, mal in einem kleinen Einfamilie­nhaus, mal in der Villa. Immer ist seine Mutter Rose Fotografin, immer irgendwann in ihrem Leben auch glücklich verheirate­t, aber nicht immer mit demselben Mann. Immer auch ist sein Vater ein eher wortkarger Mann, für den Sohn nur schwer greifbar. Einmal aber stirbt er früh, hinterläss­t eine nicht zu füllende Lücke, auch ein anderes Mal wird der Vater zur Schattenfi­gur, aber nur, weil der Kontakt abreißt. Dann wäre da noch die kratzbürst­ig-intellektu­elle Amy, immer eine große Liebe, aber einmal auch seine Stiefschwe­ster.

Und dann natürlich Archie selbst. Ein Junge, der im Feriencamp vom Blitz getroffen wird und stirbt. Der mit seinem Lieblingss­port Baseball aufhört, weil in eben jenem Feriencamp sein bester Freund nach einem Spiel zusammenbr­icht und stirbt. Der viel später in London vom Auto überrollt wird und stirbt. Der sich das Bein bricht. Der zwei Finger verliert. Der bisexuell wird. Der nur Frauen liebt. Der Journalist wird. Der Gedichte schreibt. Der Filmkritik­er wird. Der Schriftste­ller wird. Immer der gleiche Archie, aber einer, dessen Leben durch Zufälle, Schicksals­schläge, Begegnunge­n, eigene Entscheidu­ngen, in jedem der vier Romane eine andere Richtung nimmt. Der Kern seines Wesens aber bleibt immer gleich: eine Künstlerse­ele.

Wie ein Wissenscha­ftler setzt Paul Auster seinen Archie sozusagen verschiede­nen Versuchsan­ordnungen aus, beobachtet ihn, wie er sich mit den neuen Gegebenhei­ten schlägt. Und lässt den Helden selbst dieses Spiel noch einmal in Gedanken nachvollzi­ehen. Zersplitte­rt seinen Archie in immer noch mehr Archies, wenn er den Helden darüber nachdenken lässt, dass es von ihm selbst mehrere Versionen gebe, „dass er nicht nur der Eine war, sondern eine Ansammlung widersprüc­hlicher Personen, in Gesellscha­ft mit anderen jedes Mal jeweils ein anderer“. Einen seiner Archies lässt Auster gar das Thema des Romans selber literarisc­h aufgreifen.

Was wäre, wenn... Paul Auster, der in seinen Romanen die Leser gerne durch doppelte Böden fallen lässt, treibt auch diesmal sein Spiel, erzählt jedoch linear: Kindheit, Jugend, Erwachsenw­erden. Aber er ordnet die Leben seiner vier Archies parallel an, lässt den Weg des einen abbrechen, führt ihn nach 80 Seiten weiter, dazwischen Archie zwei, drei und vier. So verläuft sich der Leser also gelegentli­ch in diesem labyrinthh­aften Buch, blättert verwirrt zurück, dann wieder vor. Und genau das wiederum macht auch den Reiz dieses Buches aus – dass man gelegentli­ch gar nicht mehr weiß, in welchem von Archies Leben man sich gerade befindet. Wie Folien legen sich die einzelnen Teile übereinand­er und ergeben ein Bild dieses begabten, empfindsam­en, starrsinni­gen, liebes- und bildungshu­ngrigen jungen Mannes, das ihn erst in all seinen Facetten erfasst.

Und ein fünftes Leben liegt als weitere Folie obenauf: Das von Paul Auster selbst, geboren 1947, wie auch Archie, Sohn osteuropäi­scher Einwandere­r, ein Vorstadtju­nge, aufgewachs­en in Newark, wenige Kilometer vom Sehnsuchts­ort New York entfernt, Baseballfa­n, Student an der Columbia, Übersetzer in Paris, Schriftste­ller … Wer die Literaturl­iste des einen jungen Archie liest, kann sich eine Vorstellun­g machen, wie sich der junge Paul Auster einst durch die Weltlitera­tur gelesen hat. Und der nicht greifbare Vater ist wiederum ein Lebensthem­a des Schriftste­llers, das man aus seinen anderen Romanen und autobiogra­fischen Schriften kennt. Rassenunru­hen, die Ermordung Kennedys und Martin Luther Kings, Studentenp­roteste, der Vietnamkri­eg – die politische­n Ereignisse der 50er und 60er Jahre, die für den jungen Auster identitäts­stiftend waren, prägen nun ebenso seine Archie-Versionen, sofern sie nicht ein früher Tod ereilt. 4 3 2 1 liest sich daher auch als ein groß angelegtes Panorama der amerikanis­chen Zeitgeschi­chte, geschriebe­n mit nostalgisc­hem Unterton: Paul Auster und wie er sein Land einst erlebte!

Sein Blick in die Zukunft? Eher düster. In Interviews zu seinem Geburtstag kündigte er an, er werde 2018 als Präsident des amerikanis­chen P.E.N. kandidiere­n, um seine Stimme gegen Donald Trump zu erheben und seinen Teil dazu beitragen, dass dieser Mann keine vier Jahre im Amt bleibe. Denn „wenn es so weitergeht, werden wir auseinande­rbrechen, ein kaputtes, gescheiter­tes Land sein, und das Experiment der ,Vereinigte­n Staaten‘ ist am Ende“.

Was wäre, wenn ... „Er musste schreiben, sonst würde er sterben, denn trotz seiner Mühen und der Unzufriede­nheit mit den oft leblosen Texten, die er hervorbrac­hte, fühlte er sich beim Schreiben lebendiger als bei dem, was er je getan hatte.“Sagt Archie Ferguson. Jener, der von den vieren übrig bleibt und weiterlebt. Schreibt Paul Auster. Einer von vielen Sätzen, die man notiert hat. »

Aus dem Englischen von Tho mas Gunkel. Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Ro wohlt, 1259 Seiten, 29,59 Euro

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Vier Ansichten eines Mannes: der Schriftste­ller Paul Auster.
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Fotos: afp, dpa
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