Illertisser Zeitung

Stiller Tod eines Jahrhunder­t Sängers

Der bewunderun­gswürdige Tenor wollte, dass sein unausweich­liches Ende nur mit Verzögerun­g bekannt gegeben wird

- VON RÜDIGER HEINZE überragend

Er wollte nicht, dass sein Tod unmittelba­re Bestürzung, unmittelba­res Aufsehen nach sich zieht. Er verfügte, dass sein Tod erst mit vierwöchig­em Abstand publik gemacht werde. Und so wurde auch gestern erst bekannt, dass Nicolai Gedda, einer der bewunderun­gswürdigst­en Tenöre des 20. Jahrhunder­ts, bereits am achten Januar 2017 an seinem Wohnsitz nahe Lausanne an Herzstills­tand verstarb. Er wurde 91, und seine Familie gab nun den Trauerfall bekannt.

Die Gabe, die Veranlagun­g und die Qualifikat­ion, die Nicolai Gedda im eigentlich­en Sinne des Wortes

machten, sie waren verbunden mit einem Naturgesch­enk, mit einem hohen, hellen, lyrischen, filigranen Tenor, der funkeln konnte wie ein Diamant. Schon das Debüt des schwedisch­en Sängers 1952 in Stockholm war diesbezügl­ich ein Paukenschl­ag, hat doch der Postillon von Lonjumeau in Adolphe Adams Opéra comique wiederholt ein hohes D zu schmettern.

Von da an schien klar, womit Gedda, Stiefsohn eines Don-Kosaken-Bassisten und russisch-orthodoxen Kantors, reüssieren würde: mit klarer, graziler, leichtgäng­iger, verzierung­sreicher, gleichwohl nicht simpler Musik. Mit Mozart also und mit dem Beweglichk­eit und saubere Stilistik erfordernd­en französisc­hen Repertoire. Und so kam es dann auch: Gedda wurde zum Mozart-Tenor par excellence, verwirklic­ht mit Don Ottavio, Belmonte, Tamino, Ferrando; Gedda erzielte Triumphe im französisc­hen Fach, unter anderem als Don José in Bizets „Carmen“, Faust (Gounod), Hoffmann (Offenbach), Des Grieux (Massenet), Pelléas (Debussy), Benvenuto Cellini (Berlioz). Und natürlich kamen Rossini, Belcanto, Spieloper, Operette und Verdi, vor allem der frühe, hinzu.

Möglicherw­eise ist Gedda bis heute (neben Placido Domingo) der Tenor mit den meisten Schallplat­tenaufnahm­en – nicht zuletzt begeistert befördert von Walter Legge, dem ehemaligen Londoner Produzente­n, sowie von Herbert von Karajan. Eine Empfehlung an dieser Stelle für eine Referenz-Einspielun­g sollte lauten: Nicolai Gedda als Dmitri in Mussorgski­s „Boris Godunow“oder Gedda als Partner von Maria Callas (Rossinis „Türke in Italien“, Puccinis „Madame Butterfly“, jeweils unter Karajan) – nur zwei, drei Jahre nach Geddas Stockholme­r Debüt aufgenomme­n!

Wie es so läuft in der Branche, wurde Nicolai Gedda natürlich auch zu vermeintli­ch Höherem oder realiter Höherem gedrängt: Den Lohengrin sang er zwar in Stockholm, doch nicht mehr – wie annonciert – in Bayreuth. Aus Sorge um seinen Tenor, aus Furcht vor Überbeansp­ruchung seiner Stimme, die er stets verantwort­ungsvoll pflegte, sprang er wieder ab – und sang nie mehr Wagner, zumindest nicht öffentlich.

Ein fulminant erfolgreic­hes Sängerlebe­n ist freilich auch ohne Heldenpart­ien möglich – und befriedige­nd. Zumal Gedda auch ein bis zum Ende des 20. Jahrhunder­ts eindrückli­ch gestaltend­er Lied-, Konzertund Sakralmusi­k-Interpret war. Zumal es namhafte Alternativ­en zum Grünen Hügel gibt: Mailand, Wien, Salzburg, London – und New York, wo Gedda an der Metropolit­an Opera über ein Vierteljah­rhundert hinweg in jeder Spielzeit mehrfach engagiert war.

Am Ende seiner Laufbahn schrieb der Tenor:

Ich bin dankbar für jeden Morgen, an dem ich aufwache und meine Lebensgefä­hrtin singen höre, wenn sie in den Zimmern umhergeht und sich zu schaffen macht. Ich begreife, dass man nicht in gleicher Weise wie früher etwas ersehnen kann, das in der Zukunft geschehen wird, da ich mir bewusst bin, dass die Zukunft dasselbe ist wie ein Tag näher dem unausweich­lichen Ende.

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Foto: picture alliance/SVT Nicolai Gedda im Jahr 1964 bei einer Probe.
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