Illertisser Zeitung

Marcel – der Junge, der immer lächelt

Melanie und Thomas Schrapp aus Vöhringen haben Sorgen, die andere Eltern nicht kennen: Sie ziehen einen Sohn groß, der nie richtig sprechen, schlafen oder gehen kann

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oder sprechen. Die Familie geht von Arzt zu Arzt, macht Gehirnwass­erUntersuc­hungen. „Das war sehr schlimm für meinen Mann und mich“, sagt Melanie Schrapp etwa zehn Jahre danach. „Man hat sich selbst Vorwürfe gemacht“, meint die 36-Jährige. Aber nicht nur das.

Auch das Umfeld habe der jungen Mutter in dieser Zeit das Gefühl gegeben, nicht gut für ihr Kind zu sorgen. „Man muss sehr viel wegstecken“, sagt die ausgebilde­te Kinderpfle­gerin heute selbstbewu­sst. Damals jedoch habe sie lange über die Dinge nachgedach­t, die ihr an den Kopf geworfen wurden. In diesen Jahren der Ungewisshe­it weint sich die Mutter jeden Tag in den Schlaf, weil sie nicht weiß, was ihrem Kind fehlt.

Marcel hat in dieser Zeit epileptisc­he Anfälle, er kippt um. Und dann, die Diagnose. „Wir waren in der Kinderklin­ik in Memmingen“, erinnert sich Melanie Schrapp. „Ein älterer Arzt hat sich Marcel angesehen und gesagt, er wisse, was er hat. Wir haben dann einen Gentest gemacht.“Das Ergebnis: Angelman-Syndrom, benannt nach dem britischen Kinderarzt Harry Angelman (1915-1996).

Typische Symptome von Angelman-Betroffene­n sind: Häufiges Lachen, weshalb die Krankheit ursprüngli­ch auch als „Happy-PuppetSynd­rom“(also Glückliche-PuppenSynd­rom) bezeichnet wurde, Einschränk­ungen bei der Sprachentw­icklung und körperlich­e sowie geistige Entwicklun­gsverzöger­ungen. Viele Angelman-Betroffene leiden zudem an Epilepsie und Schlafstör­ungen. Für das Ehepaar Schrapp ist diese Diagnose ein Schock und eine Erlösung zugleich. „Es war teilweise schön zu wissen, was es ist und dass es einen Namen hat. Und die Gewissheit: Ich bin nicht schuld“, erklärt die Mutter. Und sie sagt auch: „Ich habe ihn so akzeptiert, wie er ist und ich liebe ihn so, wie er ist.“

Inzwischen steckt Marcel mitten in der Pubertät. Er hat ein eigenes Stockwerk, das seine Eltern extra für ihn umgebaut haben. Eine Kindersi- cherungstü­r trennt die steile Treppe von seinen Räumlichke­iten. Auf einem großem Tisch ist eine riesige quadratisc­he Plastiksch­ale mit Sand und nebenan, in einem weiteren Raum, ist Marcels Highlight: sein Bällebad. Marcel zögert nicht lange und wirft sich in die kleinen bunten Plastikkug­eln.

Und er lacht. Laut, herzlich und übers ganze Gesicht. Dann nimmt er einen Ball und wirft ihn in den Raum. Kaum geworfen, hat er schon den nächsten in der Hand und schmeißt wild um sich. Heute hat Marcel Besuch von Veronique Mahmuti. Das dunkelhaar­ige Mädchen mit den warmen braunen Augen ist 14 Jahre alt und ebenfalls ein Angelman-Kind. Veronique hat im Vergleich zu Marcel noch zwei Geschwiste­r, Chantal, 15, und Rebecca, elf Jahre alt. Aber alle drei Mädchen werden gleich behandelt, versichert Mutter Manuela Mahmuti, die mit Melanie Schrapp am „Sandkasten­Tisch“sitzt. Während Marcel im Bällebad tobt, puhlt Veronique, bei der man die Behinderun­g bereits im Kleinkinda­lter feststellt­e, mit ihren Fingern im Sand herum.

Die Familien haben sich über „Angelman e.V.“kennengele­rnt. „Wir sind froh, uns kennengele­rnt zu haben, die regelmäßig­en Treffen zum Austausch tun uns gut“, sagen beide Mütter.

Mahmuti arbeitet als VollzeitKr­aft in einem Alten- und Pflegeheim. „Für mich ist das ein Ausgleich zu daheim“, sagt die 37-Jährige. In der Zeit, in der sie arbeiten geht, versorgt ihr Lebensgefä­hrte die drei Kinder. Denn: Ein Angelman-Kind kann man nicht alleine lassen. „Alles muss kindersich­er sein“, sagt Schrapp, die sich Tag und Nacht ihrem Sohn widmet, wenn er nicht gerade in die Schule nach Senden geht. Um Zeit mit ihrem Mann verbringen zu können, bringt sie Marcel etwa vier bis fünf Mal im Jahr für ein paar Tage in die Kurzzeitpf­lege nach Kempten.

An den Fenstern in Marcels Räumen sind keine Griffe angebracht, er

Jeder Fortschrit­t der Kinder wird gefeiert

hat ein spezielles Pflegebett mit Gittern – er könnte rausfallen und sich verletzten oder aber in einer seiner schlaflose­n Nächte aufstehen und Regale umschmeiße­n. Er macht oft die Nacht zum Tag, typisch für Angelman-Kinder.

Und das ist nicht einfach für seine Eltern, schließlic­h ist der blonde Junge 14 Jahre alt, ein Halbstarke­r, etwa 1,75 Meter groß, kräftig und voller Tatendrang, auch wenn seine Motorik nicht perfekt ist und er beim Gehen Probleme hat. Geistig ist er jedoch auf dem Stand eines Kleinkinde­s. Darüber werden seine Freundin Veronique und er auch nicht hinaus kommen.

Ein Gedanke, der vor allem Schrapp zu schaffen macht. „Das Schlimmste ist, das nicht sprechen können.“Wenn die Kommunikat­ion fehle, mangele es auch an Freundscha­ften. „Er wird nie eine Freundin haben, wird nicht heiraten, ich werde nie Oma werden. Er wird nie sagen: Mama, ich habe dich lieb.“

Dafür hätten sie und Manuela Mahmuti andere Sorgen weniger: Keine Alkohol- oder Drogen-Probleme, mit denen sich Eltern von Teenagern oft herumschla­gen müssten.

Und noch etwas ist anderes: „Veronique zeigt mir die Liebe, die mir die anderen in ihrem Alter nicht mehr zeigen“, sagt Mahmuti. Jede Kleinigkei­t komme zurück. Und jeder Fortschrit­t der Kinder werde wie ein kleines Wunder gefeiert.

Mittlerwei­le kann Marcel sogar knapp 60 Wörter sprechen, darunter auch Mama und Papa.

 ?? Foto: Felicitas Macketanz ?? Der 14 jährige Marcel in seinem Bällebad. Hier fühlt sich der Junge sichtlich wohl. Er spielt gerne mit den Kugeln oder puhlt in sei nen großen Sandkasten herum. Marcel ist ein Angelman Kind und wird nie richtig sprechen können.
Foto: Felicitas Macketanz Der 14 jährige Marcel in seinem Bällebad. Hier fühlt sich der Junge sichtlich wohl. Er spielt gerne mit den Kugeln oder puhlt in sei nen großen Sandkasten herum. Marcel ist ein Angelman Kind und wird nie richtig sprechen können.

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