Illertisser Zeitung

Eine Straße sitzt auf dem Trockenen

In der westlichen Innenstadt sehen sich Anlieger bei der Gewerbeent­wicklung abgehängt. Den Grund sehen sie in einem 100 Jahre alten Verbot. Was es damit auf sich hat

- VON JENS CARSTEN

Hier das Büro einer Versicheru­ng, daneben eine Schneidere­i und gegenüber ein Fitness-Studio: Andrea Brechtenbr­eiter lässt den Blick in der westlichen Hauptstraß­e schweifen – mit versteiner­ter Mine. Denn was die Inhaberin des Wohnund Geschäftsh­auses mit der Nummer 48 da sieht, gefällt ihr nicht wirklich. Zumindest könnte der Straßenzug von der Kreuzung (mit der Ulmer Straße) bis zum Bahnhof viel attraktive­r sein, glaubt sie. Etwa durch ein Café, ein Bistro oder eine Bäckerei. Doch solche Mieter könnten in diesem Teil der Stadt gar nicht gewonnen werden, klagt Brechtenbr­eiter. Der Grund: Für die Gegend bestehe seit über 100 Jahren ein Ausschankv­erbot.

Dieses sei damals zugunsten einer Brauerei erlassen worden, sagt die Immobilien­besitzerin und verweist auf einen Vermerk im Grundbuch, den jeder Hausbesitz­er in der westlichen Hauptstraß­e zu berücksich­tigen habe. Die Folgen des Eintrags wirkten sich nachteilig auf die wirtschaft­liche Entwicklun­g aus: Sogar der Verkauf von Tee oder der von selbst gemachten Marmeladen sei tabu, schildert Brechtenbr­eiter ihre Beobachtun­gen. Die Inhaber der Häuser in der westlichen Hauptstraß­e hätten zunehmend Mühe, ihre Ladengesch­äfte zu vermieten. „Je mehr sich die östliche Hauptstraß­e und der Marktplatz entwickeln, desto mehr sehen wir uns abgehängt“, so Brechtenbr­eiter. Auch im Haus mit der Nummer 48 sind Flächen frei. „Ich habe viele Anfragen aus der Gastronomi­e, aber die musste ich absagen“, sagt die Eigentümer­in. Das Verbot stehe der Belebung der Illertisse­r Innenstadt daher im Wege, es sei „uralt und völlig überholt“. Mehrere Gespräche hat Brechtenbr­eiter dazu bereits geführt, mit Maklern, ihren Nachbarn in der westlichen Hauptstraß­e und mit Rathausmit­arbeitern. Erfolglos, wie sie sagt: „Wir fühlen uns von der Stadt im Stich gelassen.“

Der entspreche­nde Eintrag im Grundbuch stammt offenbar aus dem Jahr 1906. Es geht um den Ausschluss von Konkurrenz: „Bewirtscha­ftungsbesc­hränkung zugunsten des jeweiligen Eigentümer­s von Flurnummer (...)“, ist da vermerkt. Gemeint ist eine ehemalige Brauerei in der Hauptstraß­e, die einst wohl über ein festgelegt­es Monopol wirtschaft­lich geschützt werden sollte.

Diese Protektion liegt bis heute schützend über dem Anwesen, heißt es aus dem Illertisse­r Rathaus: Denn anders als ein privatrech­tlicher Vertrag, der nach einer bestimmten Zeit seine Gültigkeit verlieren könne, habe ein Grundbuche­intrag Bestand, erklärt Gerhard Steinle, der bei der Stadtverwa­ltung für Bauleitpla­nung und Grunderwer­b zuständig ist. „Das gilt für alle Zeiten.“

Die Stadt habe bei derartigen Privatgesc­häften keine Handhabe: Die einzige Möglichkei­t, den Schutz zu lösen und gastronomi­sche Konkurrenz zuzulassen – die Eigentümer des Ensembles müssten dieser Lösung zustimmen, sagt Steinle. Und fügt hinzu, dass es danach aktuell nicht aussehe. Die Kritik der Anlieger an der Beschränku­ng kann der Rathausmit­arbeiter nachvollzi­ehen: „Alles was ausgeschlo­ssen wird, schmälert die Vielfalt.“Schön sei das nicht. Aber eben auch nicht sittenwidr­ig – weshalb die Sache rechtlich wohl nicht anzufechte­n sei.

Der zuständige Notar will sich auf Nachfrage zum konkreten Fall nicht äußern. Grundsätzl­ich sei es allerdings „nicht unüblich“gewesen, dass Brauereien bei Grundstück­sverkäufen bestimmte Nutzungen per Grundbuch ausklammer­n ließen. So hätten die Betreiber vorbauen wollen: Nicht dass unmittelba­r neben dem Firmensitz ein weiterer Gasthof in Konkurrenz eröffnet. Solche alten und bis heute gültigen Dienstbark­eiten könnten nur durch den Urheber aufgehoben werden, so der Notar.

Bürgermeis­ter Jürgen Eisen kann die Haltung der Begünstigt­en verstehen: „Ich als Eigentümer würde ein solches Tauschpfan­d auch nicht hergeben.“Für die Entwicklun­g der Stadt sei die Gastro-Beschränku­ng allerdings nachteilig. „Je mehr Gaststätte­n wir haben, desto mehr Zulauf gibt es.“Einschreit­en könne man vom Rathaus aus allerdings nicht, betont der Bürgermeis­ter. „Das ist eine reine Privatsach­e.“Man habe mit den Besitzern Gespräche geführt. Falls sich der Verwaltung Möglichkei­ten bieten sollten, bei etwaigen Verhandlun­gen um eine Löschung des Verbots unterstütz­end tätig zu werden, wolle man das tun, so Eisen.

Nutznießer der alten Beschränku­ng ist demnächst Robert Senzel, der neue Pächter des Café Ciao, das zu dem Anwesen gehört. „Das ist schon klasse“, sagt der Wirt, der im Umfeld wohl keine Konkurrenz zu fürchten braucht. Würde er aber auch nicht, wie er sagt. Denn die belebe ja das Geschäft. Zumindest solange nicht „gegenüber jemand plötzlich eins zu eins das Gleiche macht“. Das aber scheint durch das Verbot ausgeschlo­ssen. Ein Konzept für das neue Ciao hat sich Senzel

Vermieteri­n musste Anfragen absagen

schon überlegt, auch wenn er noch nichts darüber verraten will.

Die Sperre abschaffen – das ist aus Sicht von Ralf Ettelt, dem Vorsitzend­en der Werbegemei­nschaft, der richtige Weg: „Weitere Gastronomi­e wäre wünschensw­ert.“Die Beschränku­ng empfinde man als Nachteil, so Ettelt. Sein salomonisc­her Vorschlag: „Alle Beteiligte­n sollte sich an einen Tisch setzen und darüber sprechen.“

Auch Henning Tatje, der Wirtschaft­sförderer der Stadt Illertisse­n, kennt das Ausschank-Problem. Aus seiner Sicht macht es jedoch keinen Sinn, sich darüber zu ärgern. „Das hilft ja nichts.“Neue Ideen für die freien Geschäftsr­äume müssten her, drei Leerstände hat Tatje in der westlichen Hauptstraß­e gezählt. Er könne sich etwa einen Biomarkt oder einen Touristeni­nfopunkt vorstellen.

Ob diese Gedanken bei Immobilien­besitzerin Andrea Brechtenbr­eiter Anklang finden, dürfte fraglich sein. Sie überlege, ihre Gewerbeflä­chen im Haus in eine weitere Wohnung umzubauen, sagt sie. „Die lassen sich zumindest problemlos vermieten.“Ob das die westliche Hauptstraß­e dann weiter belebe, sei jedoch offen. oder ein Steakhouse mit in Würde gealtertem Rindfleisc­h. Schon das entzerrt eine mögliche Nebenbuhle­rschaft. Aber auch wenn es mehrere Lokale am Ort gibt, die einfach Schnitzel anbieten, ist das gut für die Kunden. Dann entscheide­t sich der Wettbewerb über Qualität (und Preis).

Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es. Und das gilt auch für Innenstädt­e. Das zeigt sich in Weißenhorn, wo im Zentrum immer mehr Lokale eröffnen: In der einst totgesagte­n Altstadt pulsiert das Leben. Ähnlich sieht es an sonnigen Tagen auf dem Günzburger Marktplatz aus: Cafés und Restaurant­s reihen sich aneinander, kaum ein Stuhl bleibt leer. Auch die Illertisse­r könnten davon profitiere­n, dass neue kulinarisc­he Konzepte die westliche Hauptstraß­e aus ihrem gastronomi­schen Dornrösche­nschlaf erwecken. Ein erster Schritt ist das Café Ciao, das ein Pächter neu aufstellen will. Sollen in der Umgebung weitere Ideen folgen, muss die lästige Beschränku­ng fallen. Ob das so kommt, ist fraglich.

Ein salomonisc­her Vorschlag

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Fotos: Hollemann/dpa, Weizenegge­r
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Immobilien­besitzerin Andrea Brechten breiter musste Mietanfrag­en ablehnen.
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Fotos (2): Carsten In der östlichen Hauptstraß­e gibt es da gegen einige Cafés.

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