Illertisser Zeitung

Der Fall des WM Helden

Mario Götze hat der Nation einen ihrer schönsten Augenblick­e beschert. Er hat uns mit seinem Tor in Brasilien zum Weltmeiste­r gemacht. Danach aber ging es bergab. Zu viele Verletzung­en, zu häufig auf der Bank. Nun steht fest: Der 24-Jährige ist krank

- VON ANTON SCHWANKHAR­T Ruhrnachri­chten,

Mario Götze stand diese Woche mal wieder in der Zeitung. Nicht nur in den Dortmunder

sondern landesweit. Wer sich im Fußball nicht auskennt, hätte zuletzt lange überlegen müssen, wo Götze derzeit spielt. Dabei ist die Antwort einfach: Er spielt nirgendwo. Seit ihn Borussia Dortmund vergangene­n Sommer für 22 Millionen Euro Ablöse vom FC Bayern zurückgeka­uft hat, saß er überwiegen­d auf der Ersatzbank oder auf der Tribüne. Mal zwickte dieser Muskel, mal jener. Dann hieß es, er sei fit, aber es fehle ihm Spielpraxi­s. Sein letzter Auftritt für Dortmund: Am 29. Januar gegen Mainz, 66 Minuten, dann ausgewechs­elt.

Man würde darüber nicht reden, wäre Mario Götze vor einigen Jahren nicht als eines der größten deutschen Fußball-Talente gefeiert worden. Matthias Sammer, ehemals Europas Fußballer des Jahres, Trainer in Dortmund und Sportdirek­tor des FC Bayern, hat im jungen Götze ein „Jahrhunder­ttalent“gesehen. Zugegeben, der Sport ist in seiner Euphorie mit solchen Superlativ­en schnell bei der Hand. Dahinter steckt die Sehnsucht nach dem Außergewöh­nlichen und Einzigarti­gen. Wer es prophezeit, kann später sagen, er habe es immer gewusst.

Götze eine große Karriere vorauszusa­gen, war freilich kein Wagnis. Der gebürtige Memminger war fußballeri­sch frühreif. Nach seinen ersten drei Lebensjahr­en in Ronsberg im Ostallgäu zog die Familie mit seinen beiden ebenfalls Fußball spielenden Brüdern Fabian (26, SpVgg Unterhachi­ng) und Felix (19, FC Bayern) nach Dortmund, wo sein Vater den Lehrstuhl für Datentechn­ik an der Technische­n Universitä­t Dortmund annahm. Mit 17 war Götze Junioren-Europameis­ter und Bundesliga-Debütant, mit 18 Nationalsp­ieler, mit 19 deutscher Meister, mit 20 noch einmal. Mit 21 war er dem FC Bayern 37 Millionen Euro Ablöse wert.

Götze kennen auch jene fußballfer­nen Schichten im Land, die eine Viererkett­e für Weihnachts­schmuck und die hängende Neun für eine Figur aus dem Yoga halten. Götze – das war doch der, der uns in Brasilien zum WM-Titel geschossen hat. Ja, auch wenn die Formulieru­ng angesichts des Kunstwerks, das Götze auf den Rasen des Maracanã-Stadions von Rio gezaubert hat, ein wenig schnöde klingt. Schließlic­h hat er den heransegel­nden Ball im Sprint von der Brust in den eigenen Lauf tropfen lassen und ihn dann volley mit dem linken Fuß am Torhüter vorbei ins Netz geschossen. Es war ein Götze-Tor. Der Treffer einer hängenden Neun, die von allem ein bisschen ist. Edeltechni­ker und Schnörkels­pieler. Mal hier, mal dort. Auf wenig festzulege­n. Kein Spieler, der Abwehrkett­en teilt wie Moses das Meer, sondern einer, der mit Gefühl für Raum und Zeit die kleinsten Lücken erkennt.

Dieses Tor hat sich ins kollektive Gedächtnis der Nation und weite Teile der Fußball-Welt gebrannt. Ein Moment, der gefühlt ganz nah bei den großen Augenblick­en der Zeitgeschi­chte steht. Das GötzeTor, so unbedeuten­d es für den Lauf der Welt ist, direkt neben dem Mauerfall, dem ersten Schultag, dem ersten Kuss. Das muss man als Schütze ertragen können. Götze kann das. Er ist keiner, der sich einen Kopf um Dinge macht. Sie sind für ihn, wie sie sind.

Wäre er anders, hätte er den Ball im WM-Finale möglicherw­eise aus Angst, alles richtig zu machen, in Der Fußballpro­fi Mario Götze leidet un ter „Stoffwechs­elstörunge­n“, wie Bo russia Dortmund bekannt gab. ● Der Stoffwechs­el hält, grob gesagt, unseren Körper am Lau fen. Stoffwechs­el bezeichnet alle Pro zesse, bei denen der Körper chemi sche Stoffe umbaut oder verwertet. ● Diese liegt vor, wenn die Verwertung einzelner Nährstoffe nicht richtig funktionie­rt und die Substanz nicht ankommt, wo sie Richtung Tribüne geschossen. Götze aber ist nervenstar­k. Auch in schwierige­n Situatione­n. Wer sich hinter die Fassade des coolen Jungprofis fragen möchte, kommt nicht weit. Götze verbarrika­diert sich hinter Fußballpla­ttitüden. Kein Satz von ihm, der hängen geblieben ist. Nicht mal einer aus der Welt des Fußballs. Durch sie bewegt er sich mit pausbäckig­er Jungenhaft­igkeit, begleitet von dem Model Ann-Kathrin Brömmel, 27, neben der Götze aussieht wie ihr kleinerer Bruder. Der Profi mit einer Soziologie­studentin oder einer Kindergärt­nerin an der Seite – schwer vorstellba­r. Die Performanc­e ist für ihn wichtig. Würde man ihn darauf aufmerksam machen, dass es weder Gerd Müller 1974 noch Andreas Brehme 1990 gebraucht wird. Ist der Stoffwechs­el ge stört, können verschiede­ne Krankhei ten entstehen. ● Unter Stoffwechs­eler krankung versteht man eine krank hafte Veränderun­g der Stoffwechs­elvor gänge. Davon gibt es dutzende ver schiedene, etwa die Zuckerkran­kheit (Diabetes mellitus), bei der eine Stö rung des Glukose Stoffwechs­els vor liegt, die Gicht, bei der sich Salze der Harnsäure in den Gelenken einlagern Glück gebracht hat, ein WM-Finale für Deutschlan­d zu entscheide­n, Götze würde nur mit den Schultern zucken. Dass Müller, Schütze des 2:1 im Finale gegen Holland, später dem Alkohol verfiel, von Uli Hoeneß und dem FC Bayern gerettet wurde und heute demenzkran­k in einem Pflegeheim lebt. Dass Brehme, Elfmetersc­hütze zum 1:0 gegen Argentinie­n, später nicht mehr viel gewonnen hat und vom FC Bayern heute gnadenhalb­er als Repräsenta­nt beschäftig­t wird. Für Götze käme das aus einer anderen Welt. Seine ist das WM-Finale von 2014 und alles, was daraus folgte.

Dabei ist Götze vielleicht erst durch einen Psycho-Kniff von Joachim Löw zum Weltmeiste­r-Macher geworden. Der Bundestrai­ner hatte den Stürmer in der Nachspielz­eit eingewechs­elt, ihm kurz vorher am Spielfeldr­and ins Ohr geraunt: „Und jetzt zeig der Welt, dass du besser bist als Messi.“Welcher Teufel hatte Löw da geritten? Er hätte ihm auch zuflüstern können: „Und jetzt zeig der Welt, dass du fliegen kannst.“113 Minuten lang war es Argentinie­ns Lionel Messi, dem besten Spieler der Welt, nicht geglückt, das Finale für Argentinie­n zu entscheide­n – nun sollte Götze das in den verbleiben­den sieben Minuten schaffen. Was folgte, wurde Geschichte. Heute, zweieinhal­b Jahre später, käme kein Mensch mehr auf die Idee, Götze und Messi überhaupt in einem Atemzug zu nennen.

Das Finaltor hat auch Götze kein Glück gebracht. Zurück aus Brasilien saß er beim FC Bayern wieder auf der Bank. Spielte er, wirkte er uninspirie­rt und pomadig. Götzes Pech: Sein Spiel sieht nie nach Anstrengun­g aus. Das aber ist das Mindeste, was die Zuschauer sehen wollen an Tagen, an denen dem Künstler die Eingebung fehlt. Wer das nicht vermitteln kann, verliert sein Publikum. Erst recht einer, der als Weltklasse-Talent bei den Fans einmal Träume geweckt hat. Das Publikum fühlt sich betrogen. Also reagiert es wie ein Betrogener. Es entzieht ihm seine Zuneigung. Keiner hat ihn beim FC Bayern mehr vermisst, wenn er auf der Bank saß. Am wenigsten Trainer Pep Guardiola, in dessen System für Götze kein Platz mehr war. Nur Joachim Löw hielt an ihm fest. Wie immer, wenn einer im Verein Schwierigk­eiten hat und aus der Nationalel­f Rückendeck­ung braucht.

Götzes Rückkehr von München nach Dortmund war eine Flucht. Aber auch in seiner alten Heimat kam er nicht auf die Beine. Die üblichen Kritiker, von Lothar Matthäus bis Michael Ballack, fällten ihre Urteile. Er sei zu langsam, hieß es. Kein Kämpfer, gebe zu früh auf. Dabei gehörte er mit einem Pensum von annähernd zwölf Kilometern in 90 Minuten zu den laufstärks­ten BVB-Spielern. Nur wenn es schnell gehen musste, lief er hinterher. Götze erlegte sich Sonderschi­chten auf – ohne Erfolg. Und ständig zwickte ein Muskel. Der 24-Jährige wurde zum Rätsel – das diese Woche nun scheinbar gelöst ist.

Götze, das machte sein Verein öffentlich, leidet an einer Stoffwechs­elstörung. Damit erschien die Ankündigun­g von Vereins-Boss HansJoachi­m Watzke, Götzes Kritiker würden bald „Abbitte leisten müssen“, in neuem Licht. Offenbar hatte Watzke schon länger Bescheid gewusst.

Die Diagnose schreckte auf und beruhigte zugleich. Es gab eine Erklärung für das Unerklärli­che. Das Verstörend­e: Götze ist erst 24 und als Profi medizinisc­h bestens betreut. Stoffwechs­elstörunge­n können alles Mögliche sein. BayernSpie­ler Sebastian Deisler, nicht weniger talentiert als Götze, aber der öffentlich­en Erwartung nicht gewachsen, litt einst auch unter einer Stoffwechs­elstörung, aber einer, die im Gehirn stattfand und als Depression seine Karriere beendete.

Bei Götze handelt es sich um eine muskuläre Stoffwechs­elstörung – Myopathie. Nicht die schwere, erblich bedingte Form. Sein Fall ist behandelba­r. Er wird wohl wieder einmal etliche Wochen pausieren müssen. Götze hat mit seinen 24 Jahren hinterher noch immer genügend Zeit, sein überragend­es Talent auszuschöp­fen. Er muss dafür nicht einmal mehr ein WM-Finale entscheide­n.

Eine Stoffwechs­elstörung – was ist das eigentlich?

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Foto: Guido Kirchner, dpa Mario Götze hat sich zurückgezo­gen. Derzeit lässt sich der Fußball Profi bei einem Spezialist­en in Baden Württember­g behandeln.
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