Eine Frage der Moral
Thal, Illerberg und den Westen von Vöhringen für gewöhnlich. Doch gestern war alles anders. Schon von Weitem habe sie gesehen, dass das Haus im Eschleweg in Thal gegen 5 Uhr hell erleuchtet war. Merkwürdig, denn normalerweise schliefe die betagte Bewohnerin zu dieser Zeit noch, weiß Rauscher. Sie kenne die Eigentümerin des Hauses schon von klein auf.
Die Austrägerin schaute genauer hin – und erschrak: Rauch waberte aus dem Haus, das sei deutlich zu erkennen gewesen. Die Erkenntnis kam wie ein Paukenschlag: „Ich habe mir nur gedacht: ,So ein Mist’.“Sie sprang von ihrem Fahrrad, ließ die Zeitungen stehen und rannte los. Der Mitarbeiter der Integrierten Rettungsleitstelle in Krumbach habe Rauscher am Telefon noch geraten, das Haus keinesfalls zu betreten. Die 36-Jährige ignorierte die Anweisung: „Ich dachte mir: ,Du musst da sofort rein’!“
Wegen des Rauchs habe sie im Inneren kaum noch etwas sehen können, das Atmen sei ihr schwer gefallen. Den immer kraftloser scheinenden Schreien der älteren Frau folgend, schaffte es die Austrägerin, ins Schlafzimmer vorzudringen. Dort griff sie beherzt zu: Sie konnte die Seniorin hochheben und ins Freie tragen. „Die Dame wiegt zum Glück nicht viel.“Vielleicht habe die bedrohliche Situation in ihr auch verborgene Kräfte geweckt, über- legt Rauscher. Sie habe nicht weiter auf den Rauch geachtet und einfach nur gedacht: „Bloß raus hier.“Vor dem Haus sei alles ganz schnell gegangen: Feuerwehren und Rettungskräfte seien eingetroffen und hätten die Frauen sofort versorgt. Beide wurden verletzt: Die Seniorin erlitt nach Angaben der Polizei eine mittelschwere Rauchgasvergiftung und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Rauscher und die Haushälterin wurden durch den Qualm leicht verletzt, sie mussten kurzzeitig in einer Klinik behandelt werden.
Wie die Polizei weiter mitteilt, könnte ein technischer Defekt an einer Heizdecke den Brand ausgelöst haben. Wie zu erfahren war, handelte es sich wohl um ein älteres Modell. Die Folgen des Brands schildert Polizeihauptkommissar Jürgen Salzmann so: Bett und Matratze seien verkohlt, ebenso wie die Decke und ein Stuhl. Der Boden ist vom Löschwasser getränkt. Dutzende Feuerwehrleute aus Illerberg-Thal und Vöhringen waren im Einsatz. Weil sie die Flammen schnell unter Kontrolle bringen konnten, drehte der Löschzug aus Weißenhorn noch Täglich macht die 36-Jährige ihre Runde und stellt dabei insgesamt 215 Ausgaben der
der sowie einige Exemplare einer Ulmer Zeitung zu.
Diese kamen gestern trotz des Brandes bei den Abonnenten an: Kaum aus dem Krankenhaus zurück, brachte Rauscher trotz der Schmerzen beim Atmen ihre Runde zu Ende, wenn auch etwas später als gewohnt. In einigen Tagen wird die 36-Jährige ihren Dienst wieder aufnehmen. Bis dahin will sie die Zeit nutzen: Ihre Erlebnisse wird sie vielen Freunden und Bekannten eingehend schildern müssen. Außerdem will Rauscher die Seniorin im Krankenhaus besuchen. Denn auch da hat die 36-Jährige ihre Prinzipien: „Ich finde, das gehört sich einfach.“ Rettung in Thal »
Wer sich als Laie in ein brennendes Haus begibt, um in Not geratene Mitmenschen zu retten, verfolgt ein nobles Ziel. Doch ein solches Handeln ist gleichzeitig höchst riskant. Darauf weisen Feuerwehren und Polizei immer wieder hin, auch im aktuellen Fall der Rettungsaktion in Thal. Denn bei Bränden entsteht gefährlicher Rauch. Er enthält Kohlenmonoxid – ein Atemgift, das zum Erstickungstod führen kann. Das Heimtückische: Das Gas ist farb- und geruchslos. Und außerdem können bei Feuern in Häusern Kunstfasern verbrennen, wodurch Gifte produziert werden. Beides kann mit spezieller Ausrüstung festgestellt werden, ist für Nichtfachleute aber nicht erkennbar. So kann für unbedarfte Retter jeder Atemzug der letzte sein.
Diesen Risiken setzte sich die Zeitungsausträgerin Yvonne Rauscher aus, als sie am Donnerstag bei dem Brand in dem Haus in Thal beherzt und ohne lange zu überlegen eingriff. Trotz einer Warnung der Rettungsleitstelle drang sie in das Schlafzimmer der hilflosen Rentnerin vor und holte diese aus dem Gebäude. Dabei wurde die Helferin verletzt: Ebenso wie die Seniorin erlitt sie eine Rauchgasvergiftung. Das zeigt, wie gefährlich die Situation war. All diesen Bedenken zum Trotz: Am Ende ist die eigenmächtige Rettung gut verlaufen. Das dürfte für alle Beteiligten das sein, was zählt. Ohne das mutige Vorgehen von Yvonne Rauscher hätte die Rentnerin das Feuer möglicherweise nicht überlebt.
Wer sich selbst in Lebensgefahr begibt, um einem anderen Menschen zu helfen, tut das aus freien Stücken: Anders Handelnden ist rechtlich wohl kein Strick zu drehen. Was bleibt, ist allerdings die moralische Frage: Reicht es, den Notruf zu wählen, oder muss ich selbst eingreifen? Das muss jeder für sich selbst beantworten, der in so eine Lage gerät. Yvonne Rauscher hat das am Donnerstagmorgen innerhalb weniger Sekunden getan – auf die Feuerwehr zu warten, kam für sie nicht in Frage. Das war sehr mutig. Schön, dass es bis auf die leichten Verletzungen ein glückliches Ende gab.