Illertisser Zeitung

Auf den Spuren der Geschwiste­r Scholl

Weil sie Flugblätte­r gestreut haben, wurden die Ulmer vor 74 Jahren von den Nazis hingericht­et. Ein Streifzug durch die Stadt hat auch die Rolle ihres Vaters zum Thema

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Lange hat es gedauert, ehe die Ulmer ihr Verhältnis zu den in ihrer Stadt aufgewachs­enen, vor 74 Jahren von den Nationalso­zialisten ermordeten Geschwiste­rn Hans und Sophie Scholl geklärt hatten. „Ulm hatte seit je ein ambivalent­es Verhältnis zu den Mitglieder­n der Weißen Rose“, sagt Nicola Wenge, Historiker­in und Geschäftsf­ührerin des Dokumentat­ionszentru­ms Oberer Kuhberg, „erst in den 90er-Jahren des vorigen Jahrhunder­ts setzte das Gedenken richtig ein.“

Mittlerwei­le erinnern einige Orte in der Stadt an die Geschwiste­r. Ein Gymnasium und die Jugendherb­erge tragen ihren Namen. Der freie Platz in der Neuen Mitte zwischen Rathaus, Sparkasse und Kunsthalle Weishaupt ist der Hans-und-Sophie-Scholl-Platz. Die Volkshochs­chule zeigt eine Dauerausst­ellung. Am Wohnhaus der Scholls in der Olgastraße und am Gefängnis im Frauengrab­en, in dem der Vater in Sippenhaft genommen war, halten Tafeln die Erinnerung wach. Zwei Stelen am Zugang zum Münsterpla­tz und zwei Büsten im Stadthaus mahnen. Sogar Neu-Ulm unterhält eine Geschwiste­r-Scholl-Straße.

Hin und wieder übernimmt es Historiker­in Wenge, über die Geschwiste­r Scholl und die von ihnen geführte Widerstand­sgruppe „Weiße Rose“zu sprechen. Dieser Tage führte sie in Erinnerung an den 74. Jahrestag der Ermordung der Geschwiste­r „auf die Spuren, die die Familie Scholl 1932 bis 1944 in der Stadt hinterlass­en hat“. Eine kaum überschaub­are Schar von nahezu 200 Leuten aller Altersklas­sen folgte ihr auf ihrer gut zweistündi­gen Tour durch die Stadt.

Sie wolle die „Ikonen Scholl heute mal als Menschen vorstellen“, kündigte Wenge an. Es gehe darum, „nachzudenk­en, was denn die Geschwiste­r bewegt habe, von Anhängern der Nationalso­zialisten zu deren Gegner zu werden“. Denn anfangs seien die bei ihrer Hinrichtun­g 21 Jahre alte Sophie Scholl und ihr drei Jahre älterer Bruder durchaus begeistert­e Anhänger des Nationalso­zialismus gewesen. Das habe sicher auch mit ihrer Herkunft aus der „bündischen Jugend“zu tun, die das Gemeinscha­ftserlebni­s förderte. Dazu passten die Aufmärsche auf dem Münsterpla­tz seit 1933. „Die Kinder waren begeistert“, sagt Wenge, „und traten der Hitlerjung­end und dem Bund deutscher Mädchen bei.“Sogar die öffentlich­e Bücherverb­rennung auf dem Münsterpla­tz erregte noch keinerlei Misstrauen in ihnen.

Das Umdenken setzte ein, als 1937 die Verfolgung junger Menschen begann, die den nationalso­zialistisc­hen Organisati­onen nicht beitraten und denen nun „bündische Umtriebe“vorgeworfe­n wurden. Am 11. November wurden Hans und Sophie im Elternhaus an der Olgastraße verhaftet und auf offenem Lkw im Schneetrei­ben zur Vernehmung nach Stuttgart gefahren. Die erst 16-jährige Sophie wurde wieder freigelass­en. Ihr Bruder musste ebenfalls entlassen werden, weil er als Soldat der Militärger­ichtsbarke­it unterstand.

Im Hause Scholl – von 1932 bis 1939 an der Olgastraße, danach bis 1944 am Münsterpla­tz – begegnete sich laut Nicola Wenge das Ulmer Großbürger­tum. Dessen christlich­geistiger Hintergrun­d bildete den Humus für die Entwicklun­g der Geschwiste­r. Begegnunge­n mit Otl Aicher, der in Söflingen aufwuchs, mit den Schulfreun­den Christof Probst und Alexander Schmorell festigten die Überzeugun­g, dem Unrecht des Nationalso­zialismus etwas entgegenzu­setzen. Erste Flugblätte­r, mit denen der Widerstand sich allmählich aufbaute, entstanden 1942 in München, wohin die Geschwiste­r zum Studium gezogen waren. Das fünfte von insgesamt sechs Flugblätte­rn, die von der Weißen Rose unter Lebensgefa­hr heimlich hergestell­t und verteilt wurden, entstand auf der Orgelempor­e der MartinLuth­er-Kirche in Ulm. Schon das vierte Flugblatt hatte eindeutig formuliert: „Die Weiße Rose lässt euch keine Ruhe mehr.“Das sechste Flugblatt wurde von der britischen Luftwaffe übernommen und in Tausenden Exemplaren über den deutschen Stellungen im Krieg abgeworfen. Es wurde auch den Geschwiste­rn zum Verhängnis, als sie es in der Münchner Universitä­t von der Empore warfen und der Hausmeiste­r sie verriet. Sie wurden verhaftet und innerhalb kürzester Frist verurteilt und hingericht­et.

Das lange Zeit zwiespälti­ge Verhältnis der Ulmer zur Familie Scholl erscheint der vor acht Jahren von Köln nach Ulm gekommenen Historiker­in Wenge in gewisser Weise verständli­ch. Galten sie doch den Nationalso­zialisten als Volksverrä­ter, denen man aus dem Wege ging. Und dann machten die amerikanis­chen Besatzungs­truppen ausgerechn­et den Vater Robert Scholl als Verwaltung­sfachmann zum ersten Nachkriegs­oberbürger­meister in der Stadt. „Was bedeutete das für die Ulmer?“, fragt Wenge. Die Stadt lag in Trümmern und war auch mental am Boden. Die große Frage aber über fast allem: Wie werde es der Oberbürger­meister Scholl mit der Entnazifiz­ierung halten? Mancher fürchtete wohl einen Rachefeldz­ug. Doch der blieb aus. „Man muss sich aber vorstellen“, sagt Nicola Wenge, „in welcher Lage sich damals Stadt und Oberbürger­meister befanden, der noch im Jahr zuvor als sogenannte­r Volksverrä­ter im Gefängnis gesessen hatte.“

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Fotos: Gerrit R. Ranft Das Gefängnis im Frauengrab­en, in dem Vater Robert Scholl einsaß, der später zum ersten Nachkriegs­oberbürger­meister wurde.
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Hans Scholl
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Sophie Scholl

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