So normal wie möglich
In den Klassen für Kranke am Augsburger Josefinum bekommen junge Psychiatriepatienten Unterricht. Das Ziel ist der Weg zurück in den Alltag. Für Schüler und Lehrer ist es ein Tanz zwischen zwei Extremen
Dass hier fast nichts ist wie an anderen Schulen, fällt auf den ersten Blick kaum auf. Nur ein paar Sachen sind ungewohnt, doch das liegt am Umbau der Klassenräume. Hier wird in einem früheren Wohnhaus unterrichtet. Viele Zimmer sind klein, statt grüner Tafeln gibt es mobile Whiteboards.
Ungewöhnlich sind hier nicht nur die Klassenzimmer. Viele Schüler kommen erst irgendwann im Laufe des Schuljahres. Manche bleiben für ein paar Wochen, andere viel länger. Es sind Schüler, die den Alltag anderswo nicht bewältigen konnten. Die Zimmer gehören zu den Klassen für Kranke in der Augsburger Klinik Josefinum. Angeschlossen sind sie an die Frère-Roger-Schule. Die Schüler dieser Klassen sind Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Josefinum, das mit den Außenstellen in Kempten und Nördlingen für ganz Schwaben zuständig ist. Um die 1000 Patienten im Jahr werden hier stationär behandelt. Sie leiden an Depressionen, Angststörungen und Essstörungen, an Persönlichkeitsstörungen, Entwicklungsstörungen und anderen Krankheitsbildern.
Patienten, die schulpflichtig sind, besuchen die Klassen für Kranke – vorausgesetzt, die Belastung ist nicht zu groß für sie. Der Unterricht ist ein Tanz zwischen den Extremen. Zwischen einem ganz normalen Alltag, den die Patienten erleben sollen. Und zwischen den individuellen Bedürfnissen, die sie wegen ihrer Krankheiten haben.
Da ist zum Beispiel eine Schülerin, nennen wir sie Anna. Sie ist still und fällt in ihrer Klasse nicht übermäßig auf, scheint aber zu verstehen, worum sich der Unterricht dreht. Dass Anna oft ängstlich ist und an Depressionen leidet, wird erst bemerkt, als sie den Alltag nicht mehr bewältigt. Sie zieht sich in ihr Zimmer zurück, bricht die Kontakte zu den Freundinnen ab, kommt kaum mehr in die Schule und wird dort immer schlechter. Im Josefinum entscheiden Ärzte und Psychologen, dass feste Strukturen Anna zurück in den Alltag helfen sollen. Zeiten zum Schlafen, zum Aufstehen, zum Essen, für die Schule.
„Die Schule gehört in Deutschland in einem gewissen Alter einfach zum Alltag“, sagt Christoph Woithon. Der Sonderschulpädagoge ist als zweiter Konrektor an der FrèreRoger-Schule für die Klassen für Kranke zuständig. „Für uns ist es wichtig, den Patienten so schnell wie möglich in die Normalität zu bringen“, ergänzt Vehbi Sakar, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Klassen für Kranke sollen eine Chance auf einen Neuanfang bieten oder bei der in den Alltag helfen. Sie sollen den jungen Patienten den Unterricht ermöglichen, der ihnen vom Gesetz garantiert wird. Und sie sind Teil der Therapie am Josefinum.
Der Unterricht für Anna beginnt mit ein paar Stunden Mathe. Anna hat sich das gewünscht, sie mag Ma- the am liebsten. Unterrichtet wird sie von einer Lehrerin, weil sie mit Frauen besser zurechtkommt als mit Männern. Nach und nach kommen weitere Fächer und Stunden dazu, schließlich kehrt Anna an ihre ursprüngliche Schule zurück.
Dass Schüler manches selbst entRückkehr scheiden dürfen, hat seinen Grund. „Oft ist es für die Schüler wichtig, sich selbstbestimmt zu erleben. In die Psychiatrie zu kommen, ist ja erst einmal ein persönliches Scheitern“, sagt Woithon.
Manchmal trägt die Schule Mitschuld am Scheitern. So wie bei Paul, dessen Name wie der von Anna erfunden ist. Paul geht in die Grundschule und fällt in seiner Klasse immer wieder auf. Inhaltlich scheint er alles zu verstehen, aber in der Klasse kommt er nicht zurecht. Es gibt Konflikte. Paul macht keine Hausaufgaben mehr, wird schlechter, in der Familie gibt es deshalb Streit. Im Josefinum diagnostizieren Ärzte eine Sprachverständnisstörung. Wird eine Aufgabe visualisiert, weiß Paul, was zu tun ist. Worte allein genügen nicht. Ein Problem, das sich im Unterricht mit Folien oder Tafelbildern lösen lässt. Doch zuerst muss Paul die Schule als einen Ort kennenlernen, den er gern besucht.
Die echten Namen von Anna und Paul und weitere Details der Fälle verraten Woithon und Sakar nicht. Denn die Klassen für Kranke funktionieren nur durch das Vertrauen der Patienten und ihrer Eltern. Woithon und Sakar wollen das nicht gefährden. Die Lehrer der Klassen für Kranke müssen die Diagnosen aus dem Josefinum kennen, um die Schüler so zu unterrichten, wie es nötig ist. Dem müssen die Eltern zustimmen. Genauso wie sie erlauben müssen, dass die Lehrer am Josefinum sich mit den Lehrern der ursprünglichen Schulen abstimmen.
Dass der Unterricht an den Klassen für Kranke individuell ist, liegt nicht nur an den Krankheitsbildern. Die Klassen sind oft jahrgangsübergreifend. Auf 14 Schüler kommt ein Lehrer, manchmal gibt es kleinere Lerngruppen. Vorstellen, sagt Christoph Woithon, könne man sich das etwa wie eine Nachhilfeklasse. Jeder Schüler bekommt eigene Materialien, je nach Klasse, Schulart, Schulbuch. Schwierig ist das nur bei Grundschülern. Wer so früh in der Schule scheitert, dem fehlen zu viele Grundlagen, um in einer gemischten Gruppe unterrichtet zu werden.
Eines gilt für alle: Tests und Noten gibt es nur in Ausnahmefällen. So sieht es die bayerische Krankenhausschulordnung vor. Stattdessen schreiben die Lehrer Lernstandbeschreibungen. Ist ein Schuljahr zu Ende, können die Schüler der Klassen für Kranke auf Probe vorrücken. Wie erfolgreich der Weg zurück in die Normalität war, erfahren Christoph Woithon und seine Kollegen nicht immer. Zwar verschicken sie Fragebögen an die Schulen, doch nicht alle kommen zurück. Die Antworten, die zurückkommen, seien zu einem sehr großen Teil positiv, sagt Woithon. Doch nicht allen Patienten gelingt der Weg zurück in die Normalität.
Ab einer gewissen Größe gebe es an jeder Schule Jugendliche, denen der Unterricht in Klassen für Kranke gut tun würde, sagt Christoph Woithon. Manche Fälle seien akut, manchmal könne Prävention helfen.