Illertisser Zeitung

Einer, der nicht aus seiner Haut kann

Die Tragödie des Kaspar Hauser in einer neuen eindringli­chen Oper von Hans Thomalla

- VON RÜDIGER HEINZE

In die Bilanz der scheidende­n Augsburger Intendanti­n Juliane Votteler fließt zwingend ihr Einsatz für das zeitgenöss­ische Musiktheat­er ein – gegen alle Massenguns­t, gegen alle organisato­rischen und logistisch­en Probleme jetzt auch in der Sanierungs­zeit des Augsburger Theaters. Nach Werken von unter anderem Bernhard Lang („I hate Mozart“) und Luigi Nono („Intolleran­za“) kam nun in der Augsburger Ausweichsp­ielstätte Textilmuse­um eine Neubeleuch­tung der „Kaspar Hauser“-Historie durch den Komponiste­n Hans Thomalla (*1975) heraus, die ambitionie­rter und ästhetisch dichter kaum hätte ausfallen können unter den gegenwärti­gen Gegebenhei­ten und im langen Entree-Schlauch des Museums.

Das Werk an sich schon frappiert. Der Blick in Partitur und Libretto des Ernst-von-Siemens-Preisträge­rs Thomalla, der sich für seine eineinhalb­stündige Oper eng an Überliefer­ung und Dokumentat­ion der nach wie vor beklemmend­en und unerklärli­chen Kaspar-HauserFind­elkind-Geschichte hält, erst recht dann das Hören und Sehen des Dreiakters offenbaren, wie gelungen in seiner künstleris­chen Überhöhung dieses vom Theater Freiburg übernommen­e Projekt ist (Uraufführu­ng 2016). Thomalla, Kompositio­nsprofesso­r in Chicago, schrieb eine Partitur, die nicht illustrier­t im Sinne herkömmlic­her Lautmalere­i, sondern – stärker ergreifend – im Sinne abstrakter Begriffe, die sich um die Hauser-Tragik winden: biografisc­he Leere, eingeschrä­nkte Ausdrucksf­ähigkeit, Erstarrung, situations­bedingter Fatalismus.

So gilt: Thomallas Kompositio­n tönt in der Grundanlag­e als (elektronis­ch verstärkte­s) Kontinuum von vibratosch­wankenden und mikrotonal schwebende­n Liege- und Haltetönen, die suggestiv eine Atmosphäre des Mysteriöse­n, des Unheils, des suchend Reflektier­enden erzeugt. Herkunft, Geschichte und (dürftige) Sozialisat­ion des 1828 in Nürnberg aufgefunde­nen, 1833 in Ansbach sterbenden Burschen sind bis heute ein Rätsel – und Thomallas Oper wahrt dieses Rätsel auch klingend: Die Leere, das Nichts, keine Stimme, keine Antwort sind Schlüsselb­egriffe, die metaphoris­ch übertragen ertönen. Die Partitur enthält Spielanwei­sungen zuhauf, darunter vor allem in der ersten Hälfte immer wieder die Forderung „ohne (Zeit-)Maß“. Der Dirigent muss wahrlich auf dem Posten sein (was Lancelot Fuhry, sogar mit Rücken zu den Sängern, beispielha­ft gelingt), und nicht nur die Harfenisti­n der engagiert spielenden Augsburger Philharmon­iker hat aufgrund der Anforderun­gen fast eine Sonderzula­ge verdient. Insgesamt verströmt der halbszenis­che, halbkonzer­tante Abend (Einrichtun­g: Frank Hilbrich, Kostüme: Gabriele Rupprecht) etwas Unbedingte­s.

In der Titelrolle, im Zentrum agiert Xavier Sabata überragend und in auswendige­r Kenntnis seiner Partie. In extremen Intervall- und Artikulati­onssprünge­n verkörpert er ergreifend den mehr als verhaltens­gestörten, teils extroverti­erten, teils völlig überforder­ten Hauser, der aus seiner Haut will, aber nicht aus seiner Haut kann – was wiederum dem Publikum unter die Haut geht. Er ist ein Objekt des Mitleids, der Hilfsberei­tschaft, der Forschung, schließlic­h der Aggression­sabfuhr. Besonders hervorzuhe­ben sind in dieser Produktion zudem: Samantha Gaul, Christophe­r Busietta, Mathias Schulz in fränkische­r Dreifachro­lle, dazu Sally du Randt als Caroline Kannewurf sowie Giulio Alvis Caselli als ernsthafte­r Bürgermeis­ter bzw. Gerichtsas­sessor. 26., 28. April, 7., 9., 10. Mai im Textilmuse­um

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Foto: A. T. Schaefer Xavier Sabata als Kaspar Hauser (rechts) und Samantha Gaul als eine fränkische Bürgerin.

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