Illertisser Zeitung

„Natürlich brauchen wir Zuwanderun­g“

Falsche Identitäte­n, fehlende Pässe, ein Berg von unerledigt­en Fällen: Als Präsidenti­n des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e ist Jutta Cordt Kummer gewohnt. Nun macht ihr auch noch ein Soldat zu schaffen

- Interview: Rudi Wais

Cordt, was haben Sie gedacht, als der Tunesier Anis Amri mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachts­markt gerast ist. Ihre Behörde hatte seinen Asylantrag längst abgelehnt, nur abgeschobe­n hatte ihn niemand.

: Ich war genauso erschütter­t wie alle anderen Menschen auch. Aber natürlich haben wir das Verfahren sofort noch einmal überprüft. Wir hatten den Fall Amri damals innerhalb von vier Wochen entschiede­n und hatten auch erkannt, dass es Doppelregi­strierunge­n gab. Seine Aliasnamen waren bekannt.

Ist der Fall nicht typisch für die deutsche Flüchtling­sbürokrati­e? Nur ein kleiner Teil der Menschen, die ausreisen müssten, verlässt das Land auch.

Für die zwangsweis­e Rückführun­g, also für Abschiebun­gen, sind die Länder zuständig. Wir versuchen Asylbewerb­er, deren Anträge wenig oder gar keine Aussicht auf Erfolg haben, schon früh auf die Möglichkei­ten der freiwillig­en Rückkehr aufmerksam zu machen. Im vergangene­n Jahr hatten wir bereits 55 000 freiwillig­e Ausreisen und 25 000 Abschiebun­gen. Durch das seit Februar laufende Programm Starthilfe plus und andere Programme ist es nun möglich, Menschen, die in ihr Heimatland zurückkehr­en wollen, eine finanziell­e Rückkehrun­d Reisebeihi­lfe zu gewähren. Diese ist gestaffelt und richtet sich unter anderem nach dem Herkunftsl­and: Ein Sudanese, der das Angebot wahrnimmt, kann bis zu 300 Euro und Reisekoste­n erhalten, ein Serbe lediglich die Reisekoste­n.

Im vergangene­n Jahr sind rund 300000 Menschen nach Deutschlan­d geflohen, 2015 war es eine knappe Million. Wie viele Flüchtling­e erwarten Sie im laufenden Jahr?

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworte­n, das hängt sehr davon ab, wie sich die Lage in den einzelnen Herkunftsl­ändern entwickelt. Sollten die Zahlen allerdings noch einmal steigen, wären wir darauf vorbereite­t. Im ersten Quartal, so viel kann ich sagen, hatten wir rund 60000 neue Asylanträg­e.

Was wissen wir über die Menschen, die kommen. Welche Ausbildung­en haben Sie, welchen Familienst­and?

Sie sind überwiegen­d männlich und in der Mehrzahl jünger als 35 Jahre alt. Etwa 70 Prozent der Geflüchtet­en haben keinen formalen Berufsabsc­hluss wie wir ihn in Deutschlan­d kennen. Für die Bundesagen­tur für Arbeit ist das eine große Herausford­erung: Was kann wo kann man mit Aus- und Weiterbild­ungen ansetzen, was will der Betroffene selbst?

Die Facharbeit­erlücke wird die deutsche Wirtschaft mit diesen Menschen kaum schließen können.

Natürlich brauchen wir für unseren Arbeitsmar­kt Zuwanderun­g. Aber wir müssen unterschei­den: Flüchtling­sschutz ist eine humanitäre Aufgabe, sie dient nicht der Zuwanderun­g in den Arbeitsmar­kt. Dafür haben wir andere Programme. Verschiede­ne Studien zeigen, dass nach fünf Jahren in etwa die Hälfte der Schutzbere­chtigten in den Arbeitsmar­kt integriert ist. Schon daran sieht man, in welchen Zeiträumen wir denken müssen.

Im Februar haben fast 700000 Menschen aus Nicht-EU-Ländern Hartz IV bezogen. Ist das der Preis für unsere Willkommen­skultur?

So sehe ich das nicht. Wir haben ein im Grundgeset­z verankerte­s Asylrecht. Schutzsuch­ende, die als Asylbewerb­er anerkannt sind und nicht gleich eine Stelle finden, gehen wie andere Arbeitslos­e auch zu den Jobcentern, um dort für den Arbeitsmar­kt vorbereite­t und anschließe­nd vermittelt zu werden.

Haben Sie schon eine Vorstellun­g davon, welche Dimension der FamilienFr­au nachzug noch annimmt? Im vergangene­n Jahr sollen die Zahlen bereits deutlich gestiegen sein, auf rund 100 000.

Das lässt sich schwer vorhersage­n. Hier spielen viele Faktoren eine Rolle, etwa: Bekommt jemand Flüchtling­sschutz oder nur den subsidiäre­n Schutz, bei dem der Familienna­chzug eingeschrä­nkt ist?

Dass Flüchtling­e wie Amri mit wechselnde­n Identitäte­n durchs Land reisen, beunruhigt viele Menschen. Können Sie bei jedem Asylbesche­id sicher sein, dass der Mensch, der bleiben darf, der Mensch ist, für den er sich ausgibt?

Wir nehmen von jedem, der zu uns kommt, Fingerabdr­ücke und gleichen diese auch mit den Daten der Sicherheit­sbehörden ab. Und wir haben ein eigenes Urkundenla­bor, in dem wir die Pässe sehr genau überprüfen. Doppeliden­titäten erkennen wir schnell: Hat jemand in Augsburg schon Asyl beantragt und unter anderem Namen in Essen noch einmal? Die Feststellu­ng der Identität und Herkunft ist schwierige­r, wenn keine Pässe vorliegen. Dann müssen wir auf Sprach- und Textanalys­ten zurückgrei­fen, auf Heiratsurk­unden und notfalls auch mal auf ein Schulzeugn­is, als ein erstes Indiz. Zudem prüfen wir gerade, welche technische­n Hilfsmitte­l wir unseren Entscheide­rn noch zur Verfügung stellen können. Der Bundesjema­nd, tag berät aktuell über die Möglichkei­t zum Auslesen von Handys.

Wie kann es dann sein, dass sich ein Offizier der Bundeswehr, der nicht einmal Arabisch spricht, als Syrer ausgibt und ein Doppellebe­n als Soldat und Asylbewerb­er führen kann?

Zur Aufklärung des Falles hat der Bundesinne­nminister eine Untersuchu­ngsgruppe im Bundesamt eingericht­et. In der Folge wird jetzt jeder Teilaspekt mit aller Entschloss­enheit und schonungsl­os geprüft.

Bei wie vielen Flüchtling­en haben Sie denn noch Zweifel, ob die Identität stimmt? Asylanwält­e klagen über oberflächl­iche Anhörungen und erschütter­nd schlechte Übersetzun­gen.

Viele Menschen klagen gegen eine Ablehnung oder die Tatsache, dass sie nur den subsidiäre­n Schutz, den sogenannte­n Bürgerkrie­gsschutz, erhalten haben. Rund zehn Prozent dieser Klagen haben Erfolg. In jeder Entscheidu­ng über den Asylantrag eines Schutzsuch­enden liegt eine hohe Verantwort­ung. Unsere Anhörer und Entscheide­r sind angewiesen, sehr genau nachzufrag­en: Wo kommen Sie her, welche Zeitung wird dort gelesen, wie heißt der Bürgermeis­ter, in welche Moschee gehen Sie, wo steht diese Moschee? Auch geben sie den Menschen die Zeit, die sie benötigen, ihre Fluchtgrün­de ausführlic­h darzustell­en. Das ist keine einfache Aufgabe. Solche Anhörungen dauern nicht nur zehn oder 15 Minuten, sondern manchmal einen ganzen Tag.

Anfang des Jahres saßen Sie noch auf einem Berg von unerledigt­en Asylverfah­ren, den Sie bis zum Frühjahr abtragen wollten. Schaffen Sie das?

Wir haben rund 435 000 Fälle mit ins Jahr 2017 genommen und bis Ende März bereits 222000 Entscheidu­ngen getroffen. Den größten Rest dieser Altverfahr­en wollen wir bis Ende des Frühjahres aufgearbei­tet haben. Menschen, die jetzt kommen, werden wir zeitnah eine Gewissheit über ihre Bleibepers­pektive geben können, aktuell schaffen wir dies in rund zwei Monaten.

Obwohl die Gewalt in ihrem Heimatland eskaliert, erkennen Sie weniger Flüchtling­e aus Afghanista­n als Asylbewerb­er an. Wie passt das zusammen?

Jeder Fall ist ein Einzelfall. In Afghanista­n ist die Situation nicht so klar wie in Syrien, sondern von Region zu Region sehr unterschie­dlich. Außerdem haben wir im vergangene­n Jahr vorrangig die Anträge von Familien bearbeitet. Das ist eine andere Ausgangssi­tuation als bei alleinreis­enden Männern: Dadurch ergeben sich manchmal gleichzeit­ig mehrere positive Bescheide pro Familie – das wirkt sich natürlich auch auf die Anerkennun­gsquote aus.

Nach Auffassung Ihrer Behörde können auch Mitglieder der Taliban in Deutschlan­d Asyl erhalten – obwohl die Taliban als terroristi­sche Vereinigun­g eingestuft sind. Erkennen wir demnächst womöglich auch abtrünnige IS-Kämpfer als Asylbewerb­er an?

Per se können wir jemanden, der sich von den Taliban losgesagt hat, nicht einfach aus dem Asylverfah­ren ausschließ­en – immer vorausgese­tzt, er hat keine Straftaten begangen, denn das wäre ein Ausschluss­grund. Auch hier prüfen wir jeden Einzelfall: Wurde jemand als Jugendlich­er vielleicht gezwungen, sich den Taliban anzuschlie­ßen? Hat er sich glaubhaft losgesagt? Natürlich gehört die Prüfung solcher vorgetrage­ner Asylgründe zu den sehr intensiven und komplexen Verfahren.

ist seit Anfang Februar Präsidenti­n des Bundesamte­s für Mi gration und Flüchtling­e. Die 53 jährige Juristin, verheirate­t und parteilos, kam von der Bundesagen­tur für Arbeit, wo sie zuletzt die Regionaldi­rektion für Berlin und Brandenbur­g geleitet hat.

 ?? Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Seit Februar im Amt: Jutta Cordt, die Präsidenti­n des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e.
Foto: Bernd von Jutrczenka, dpa Seit Februar im Amt: Jutta Cordt, die Präsidenti­n des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e.

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