Mit Lippenstift wird der Ernstfall geprobt
In Krimiserien wird wild geballert, ehe der Angreifer zu Boden fällt. Weil es im echten Leben auf mehr ankommt als auf das Schießen mit der Waffe, übt die Polizei in Senden – mit kiloschwerer Ausrüstung und viel Farbe
Ein Knall. Dann folgt gespenstische Stille. Die Welt scheint kurz den Atem anzuhalten. Vier vermummte Gestalten bewegen sich auf den Raum zu, in dem der Schuss durch die Luft peitschte. Sie tragen Helme, darunter schwarze Masken, dicke Schutzkleidung – und Maschinenpistolen. Die Waffen richten sie auf die Person am Boden. Reglos liegt der Körper auf dem kalten Boden der ehemaligen Uhrenfabrik in Senden. Es folgt ein Kommando, die vier Vermummten senken die Gewehre, plaudern – und der vermeintlich Tote steht auf. In den leer stehenden oberen Stockwerken des Gebäudes haben Polizisten aus den Landkreisen Neu-Ulm, Günzburg und Memmingen kürzlich bei einem bayernweiten Training geübt, wie sie in Gefahrensituationen vorgehen sollten. Dabei geht es nicht um wilde Schusswechsel wie im Krimi, sondern um taktisches Vorgehen.
Wie Christian Löckher-Hiemer, Polizeihauptkommissar beim Präsidium Schwaben Süd/West, erklärt, dreht sich alles darum, dass jeder Polizist, der auf Streife ganz plötzlich zum Einsatz gerufen werde, mit möglichst jeder Situation umzugehen weiß. Er soll lernen, wie er sich verhalten muss, wenn der Notruf eingeht, wie er die Schutzkleidung anzieht, wie er die Situation richtig einschätzt – bis zum Aufeinandertreffen mit einem möglichen Angreifer. „Wir lernen das NichtSchießen genauso wie das Schießen.“Wildes Dauerfeuer gebe es nicht. „Wenn meine Frau den Tatort einschaltet, verlasse ich den Raum“, sagt Löckher-Hiemer und muss schmunzeln. Die Szenen im Film seien so unrealistisch dargestellt, dass Fachleute wie er da nur die Augen verdrehen. „Kein Polizist hält ganz lässig und ohne Schutzkleidung die Waffe nah am Kopf.“Einsätze wie im echten Leben konnten die 1000 Polizisten in den vergangenen acht Wochen üben.
So wie Daniel Gerst. Der 25-Jährige ist Polizist in Neu-Ulm und hat gerade den fiktiven Killer gestellt: „Ich hab’ zum Glück eine solche Situation im Dienst noch nie erlebt. Aber die Übungen bereiten einen gut drauf vor“, sagt er. „Man sieht, wo man bereits gut vorbereitet ist und wo die Schwachstellen sind – etwa wenn man denkt, in Deckung zu sein und plötzlich einen Schmerz am Arm spürt, weil man getroffen wurde.“Denn auch wenn es sich um Farbpatronen handelt, die Schüsse können schmerzen, sagt LöckherHiemer. „Manche Kollegen gehen da mit vielen blauen Flecken raus.“Das sei auch so gewollt, denn nur so trete der Trainingseffekt ein „und die Kollegen bleiben konzentriert“.
Mit dem Farbmunitionstraining in Senden reagiert die Polizei laut Löckher-Hiemer auf die Anschläge in Paris, Berlin und Brüssel. Killer hatten dabei auf brutale und hemmungslose Weise viele Menschen getötet. „Die Hemmschwelle der Täter hat sich verändert“, sagt der Polizeihauptkommissar. Das zeige sich auch daran, dass die Kriminellen aufrüsteten – daher lege nun auch die Polizei nach. Wie Löckher- Hiemer erklärt, wurden die Dienststellen dieses Jahr mit neuer Schutzkleidung ausgestattet – statt der Sicherheitsklasse eins (einfache Schutzweste unter der Kleidung) gibt es nun Sicherheitsklasse 4 für die Beamten. Bayern folgt damit dem Beispiel der Württemberger Kollegen, die bereits nach dem Amoklauf in Winnenden im Jahr 2009 umgerüstet haben. Dass Bayern recht spät die neue, sicherere Kleidung einsetzt, bedauert Löckher-Hiemer. Seiner Meinung nach seien bürokratische Hürden im Weg: Denn die Beschaffung der Kleidung müsse europaweit ausgeschrieben werden. Und das brauche seine Zeit. Jetzt, da die Polizisten die Schutzkleidung erhalten haben, müssen sie nicht nur lernen, wie man diese anzieht, sondern wie man sich in ihr bewegt. Denn die Weste mit den Keramikplatten bringt rund sieben Kilo auf die Waage – eine komplette Ausrüstung kann dann bis zu 20 Kilo wiegen. Dafür sind die Polizisten sicherer unterwegs und nicht nur gegen Messerstiche geschützt, sondern auch gegen Projektile. „Früher war die erste Schutzklasse ausreichend, man hatte gute Chancen, zu überleben“, sagt Löckher-Hiemer. Heute seien Täter mit schweren Waffen unterwegs, deren Schüsse eine einfache Schutzweste zersieben würden. Daher brauche die Polizei die richtige Ausrüstung.
Wie die in der Theorie aussieht, bekommen die 16 Polizisten, die an diesem Vormittag den Ernstfall proben, im Unterricht erklärt. Im Raum nebenan liegen bereits Waffen und Munition bereit. Dabei geht es recht bunt zu: Die Pistolen sind farblich gekennzeichnet. Ein roter Griff bedeutet, dass die Waffe keine Munition enthält, blau heißt, sie ist geladen. Dabei hat die Patrone einen Plastikaufsatz, der mit Farbe gefüllt ist – „mit buntem Lippenstift und Seife“, sagt Löckher-Hiemer. Dass in den vergangenen acht Wochen viele Male geschossen wurde, zeigen die blauen oder grünen Kleckse an den Glastüren im oberen Korridor, wo der Rauch des Schwarzpulvers noch in der Luft liegt.
Dort hallen erneut laute Schüsse durch die Gänge. Das fiktive Szenario im nächsten Einsatz dreht sich um einen Attentäter, der mehrere Geiseln bei sich hat. Die Polizisten müssen schnell handeln, um kein Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Es herrscht volle Konzentration – nur ein kleiner Fehler und der potenzielle Mörder drückt erneut den Abzug seiner Waffe.
Als der große, vermummte Mann den Lauf seiner Pistole auf eine Geisel richtet und kurz davor ist einen weiteren Menschen zu „töten“, fällt ein Schuss. Der Attentäter geht zu Boden. Den spielt an diesem Vormittag einer der sieben Trainer des „Operativen Ergänzungsdiensts“(OED) – und der muss einiges aushalten, nicht nur wegen der vielen blauen Flecken, „auch weil er ständig schreien und in den Lauf einer Waffe blicken muss. Das ist kein Vergnügen“, sagt Löckher-Hiemer.
Doch der Mann auf dem Boden reibt sich kurz den Arm, steht auf, geht in den Raum zurück und wartet. So lange, bis er erneut von seinen vier Kollegen überwältigt wird – hoffentlich.
„Früher hatte man gute Chancen, zu überleben.“Christian Löckher Hiemer, Polizeihauptkommissar