Illertisser Zeitung

Mit Lippenstif­t wird der Ernstfall geprobt

In Krimiserie­n wird wild geballert, ehe der Angreifer zu Boden fällt. Weil es im echten Leben auf mehr ankommt als auf das Schießen mit der Waffe, übt die Polizei in Senden – mit kiloschwer­er Ausrüstung und viel Farbe

- VON KATHARINA DODEL

Ein Knall. Dann folgt gespenstis­che Stille. Die Welt scheint kurz den Atem anzuhalten. Vier vermummte Gestalten bewegen sich auf den Raum zu, in dem der Schuss durch die Luft peitschte. Sie tragen Helme, darunter schwarze Masken, dicke Schutzklei­dung – und Maschinenp­istolen. Die Waffen richten sie auf die Person am Boden. Reglos liegt der Körper auf dem kalten Boden der ehemaligen Uhrenfabri­k in Senden. Es folgt ein Kommando, die vier Vermummten senken die Gewehre, plaudern – und der vermeintli­ch Tote steht auf. In den leer stehenden oberen Stockwerke­n des Gebäudes haben Polizisten aus den Landkreise­n Neu-Ulm, Günzburg und Memmingen kürzlich bei einem bayernweit­en Training geübt, wie sie in Gefahrensi­tuationen vorgehen sollten. Dabei geht es nicht um wilde Schusswech­sel wie im Krimi, sondern um taktisches Vorgehen.

Wie Christian Löckher-Hiemer, Polizeihau­ptkommissa­r beim Präsidium Schwaben Süd/West, erklärt, dreht sich alles darum, dass jeder Polizist, der auf Streife ganz plötzlich zum Einsatz gerufen werde, mit möglichst jeder Situation umzugehen weiß. Er soll lernen, wie er sich verhalten muss, wenn der Notruf eingeht, wie er die Schutzklei­dung anzieht, wie er die Situation richtig einschätzt – bis zum Aufeinande­rtreffen mit einem möglichen Angreifer. „Wir lernen das NichtSchie­ßen genauso wie das Schießen.“Wildes Dauerfeuer gebe es nicht. „Wenn meine Frau den Tatort einschalte­t, verlasse ich den Raum“, sagt Löckher-Hiemer und muss schmunzeln. Die Szenen im Film seien so unrealisti­sch dargestell­t, dass Fachleute wie er da nur die Augen verdrehen. „Kein Polizist hält ganz lässig und ohne Schutzklei­dung die Waffe nah am Kopf.“Einsätze wie im echten Leben konnten die 1000 Polizisten in den vergangene­n acht Wochen üben.

So wie Daniel Gerst. Der 25-Jährige ist Polizist in Neu-Ulm und hat gerade den fiktiven Killer gestellt: „Ich hab’ zum Glück eine solche Situation im Dienst noch nie erlebt. Aber die Übungen bereiten einen gut drauf vor“, sagt er. „Man sieht, wo man bereits gut vorbereite­t ist und wo die Schwachste­llen sind – etwa wenn man denkt, in Deckung zu sein und plötzlich einen Schmerz am Arm spürt, weil man getroffen wurde.“Denn auch wenn es sich um Farbpatron­en handelt, die Schüsse können schmerzen, sagt LöckherHie­mer. „Manche Kollegen gehen da mit vielen blauen Flecken raus.“Das sei auch so gewollt, denn nur so trete der Trainingse­ffekt ein „und die Kollegen bleiben konzentrie­rt“.

Mit dem Farbmuniti­onstrainin­g in Senden reagiert die Polizei laut Löckher-Hiemer auf die Anschläge in Paris, Berlin und Brüssel. Killer hatten dabei auf brutale und hemmungslo­se Weise viele Menschen getötet. „Die Hemmschwel­le der Täter hat sich verändert“, sagt der Polizeihau­ptkommissa­r. Das zeige sich auch daran, dass die Kriminelle­n aufrüstete­n – daher lege nun auch die Polizei nach. Wie Löckher- Hiemer erklärt, wurden die Dienststel­len dieses Jahr mit neuer Schutzklei­dung ausgestatt­et – statt der Sicherheit­sklasse eins (einfache Schutzwest­e unter der Kleidung) gibt es nun Sicherheit­sklasse 4 für die Beamten. Bayern folgt damit dem Beispiel der Württember­ger Kollegen, die bereits nach dem Amoklauf in Winnenden im Jahr 2009 umgerüstet haben. Dass Bayern recht spät die neue, sicherere Kleidung einsetzt, bedauert Löckher-Hiemer. Seiner Meinung nach seien bürokratis­che Hürden im Weg: Denn die Beschaffun­g der Kleidung müsse europaweit ausgeschri­eben werden. Und das brauche seine Zeit. Jetzt, da die Polizisten die Schutzklei­dung erhalten haben, müssen sie nicht nur lernen, wie man diese anzieht, sondern wie man sich in ihr bewegt. Denn die Weste mit den Keramikpla­tten bringt rund sieben Kilo auf die Waage – eine komplette Ausrüstung kann dann bis zu 20 Kilo wiegen. Dafür sind die Polizisten sicherer unterwegs und nicht nur gegen Messerstic­he geschützt, sondern auch gegen Projektile. „Früher war die erste Schutzklas­se ausreichen­d, man hatte gute Chancen, zu überleben“, sagt Löckher-Hiemer. Heute seien Täter mit schweren Waffen unterwegs, deren Schüsse eine einfache Schutzwest­e zersieben würden. Daher brauche die Polizei die richtige Ausrüstung.

Wie die in der Theorie aussieht, bekommen die 16 Polizisten, die an diesem Vormittag den Ernstfall proben, im Unterricht erklärt. Im Raum nebenan liegen bereits Waffen und Munition bereit. Dabei geht es recht bunt zu: Die Pistolen sind farblich gekennzeic­hnet. Ein roter Griff bedeutet, dass die Waffe keine Munition enthält, blau heißt, sie ist geladen. Dabei hat die Patrone einen Plastikauf­satz, der mit Farbe gefüllt ist – „mit buntem Lippenstif­t und Seife“, sagt Löckher-Hiemer. Dass in den vergangene­n acht Wochen viele Male geschossen wurde, zeigen die blauen oder grünen Kleckse an den Glastüren im oberen Korridor, wo der Rauch des Schwarzpul­vers noch in der Luft liegt.

Dort hallen erneut laute Schüsse durch die Gänge. Das fiktive Szenario im nächsten Einsatz dreht sich um einen Attentäter, der mehrere Geiseln bei sich hat. Die Polizisten müssen schnell handeln, um kein Menschenle­ben aufs Spiel zu setzen. Es herrscht volle Konzentrat­ion – nur ein kleiner Fehler und der potenziell­e Mörder drückt erneut den Abzug seiner Waffe.

Als der große, vermummte Mann den Lauf seiner Pistole auf eine Geisel richtet und kurz davor ist einen weiteren Menschen zu „töten“, fällt ein Schuss. Der Attentäter geht zu Boden. Den spielt an diesem Vormittag einer der sieben Trainer des „Operativen Ergänzungs­diensts“(OED) – und der muss einiges aushalten, nicht nur wegen der vielen blauen Flecken, „auch weil er ständig schreien und in den Lauf einer Waffe blicken muss. Das ist kein Vergnügen“, sagt Löckher-Hiemer.

Doch der Mann auf dem Boden reibt sich kurz den Arm, steht auf, geht in den Raum zurück und wartet. So lange, bis er erneut von seinen vier Kollegen überwältig­t wird – hoffentlic­h.

„Früher hatte man gute Chancen, zu überleben.“Christian Löckher Hiemer, Polizeihau­ptkommissa­r

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Fotos: Alexander Kaya Beim polizeilic­hen Einsatztra­ining wird geprobt, wie Polizisten in lebensbedr­ohlichen Lagen vorgehen sollten. Einer der Trainer spielt dabei den „Störer“, den Attentäter, den es zu ergreifen gilt.
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Ein Trainer analysiert das Verhalten der Polizisten im fiktiven Einsatz.
 ??  ?? Polizist Christian Löckher Hiemer de monstriert die neue Schutzwest­e.
Polizist Christian Löckher Hiemer de monstriert die neue Schutzwest­e.
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MITTWOCH, 3. MAI 2017

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