Illertisser Zeitung

Die Flüchtling­shelfer

Vor 25 Jahren fanden sich in Augsburg ein paar Idealisten zusammen, die eine Asylunterk­unft bauen wollten. Daraus ist nie etwas geworden. Aus dem Verein „Tür an Tür“schon. Und die Menschen dahinter haben noch die gleichen Ziele wie damals

- VON SONJA KRELL das der fährt Die wohnt

Amelie Kraus ist vorbereite­t. Sie hat Stifte bereitgele­gt und den Stapel Arbeitsblä­tter – Einstufung­stest Deutsch, Niveaustuf­e 1 bis 5. Alles andere, was in den nächsten Minuten passiert, kann die 24-Jährige nicht absehen. Wie viel von den Testaufgab­en die Frau mit dem Kopftuch versteht, die jetzt an ihren Tisch kommt. Ob sie überhaupt ihren Namen schreiben kann. Oder ob sie sich stattdesse­n mit Händen und Füßen verständig­en muss. „Sprechen Sie deutsch?“, fragt Amelie Kraus also. Mahsume Ahmadi rückt das Kopftuch zurecht, lächelt verschämt. „Ein bisschen“, sagt sie. Die junge Frau auf Afghanista­n beginnt mit dem ersten Blatt, schreibt die Artikel vor die Wörter. Küche, Kind, Kopf. Konjungier­t die Verben. Herr Müller in Augsburg. Er nach Italien. „Das war zu einfach“, meint die Lehrerin.

Es geht weiter: Nominativ, Akkusativ, Fragen formuliere­n, Sätze im Perfekt bilden. Auf Blatt 4, wo Mahsume Ahmadi beschreibe­n soll, was die Katze auf dem Bild tut, ist Schluss. „Das ist zu schwer“, sagt die 36-Jährige und es wirkt, als müsste sie sich entschuldi­gen. Amelie Kraus weiß, dass es anders sein kann. So wie bei der Asylbewerb­erin am Tisch nebenan. Auf die Frage, woher sie stammt, wie sie heißt, wann sie hierhergek­ommen ist, antwortet die Afghanin nicht. Sie versteht nicht, was der Lehrer von ihr will. Dann nimmt er ihren Pass, notiert die Angaben, erklärt ihr, dass sie in zwei Wochen wiederkomm­en soll, zum Kurs für Flüchtling­e, die erst das Schreiben lernen.

Gut möglich, dass Amelie Kraus sie unterricht­et. Die Lehramtsst­udentin gibt hier, beim Augsburger Verein „Tür an Tür“, DeutschKur­se für alle Flüchtling­e, die keinen Anspruch auf staatliche­n Unterricht haben. Auch Asylbewerb­er, die bei null anfangen, sind dabei. „Das ist am Anfang schwierig“, sagt die 24-Jährige. Dann spricht Kraus in einfachen Sätzen, behilft sich mit Gesten, wiederholt die Wörter immer wieder – bis sie hängen bleiben. Seit vier Jahren ist Kraus Mitglied bei „Tür an Tür“, seither unterricht­et sie in ihrer Freizeit Flüchtling­e – ehrenamtli­ch. Natürlich, sagt sie, geht es ihr um Berufsprax­is, schließlic­h will sie von Herbst an Deutsch als Fremdsprac­he unterricht­en. „Aber vor allem tue ich etwas Sinnvolles. Und es macht mir Spaß.“

Drüben im „Tür an Tür“-Café sitzt Edith Stockmann mit ihren Damen, wie jede Woche um diese Zeit, in der Mitte einen Korb voller Wolle. Die Handarbeit­sgruppe hat Stockmann vor ein paar Jahren gegründet, als sie in Rente ging – als Treffpunkt für alle, die gern stricken, vor allem aber für Flüchtling­e, die ihr Deutsch verbessern wollen. Bei Trang Hguyen, 32, hat es funktionie­rt. Mittlerwei­le spricht die Vietnamesi­n besser Deutsch, als sie strickt – und das ist wichtig für ihre Arbeit als Köchin, erklärt sie. Jetzt aber soll es um die Feier gehen, um den Wandteppic­h aus vielen kunterbunt­en Türen, die Hguyen, Stockmann und die anderen Frauen gestrickt, gestickt und gefilzt, gewebt und gehäkelt haben. Es ist ein Geschenk, das sie heute Abend übergeben wollen, wenn „Tür an Tür“seinen 25. Geburtstag feiert.

Wer die Geschichte dieser Flüchtling­sinitiativ­e verstehen will, muss weiter zurückgehe­n. Und sich mit Mahbubur Rahman, 63, unterhalte­n. Rahman flüchtete in den 1970er Jahren aus Bangladesc­h, das nach dem Unabhängig­keitskrieg von Militärput­schen und Unterdrück­ung geprägt war. Es war die Zeit, als weniger als 50000 Menschen im Jahr Asyl in Deutschlan­d beantragte­n. Zehn Jahr später war die Situa- tion eine andere. Die Flüchtling­szahlen stiegen deutlich, 1989 kamen 121 000 Asylbewerb­er – aus der Türkei, Polen und Jugoslawie­n, Indien, Afghanista­n und Bangladesc­h. Und Augsburg machte bundesweit Schlagzeil­en, weil sieben Männer aus Bangladesc­h, die abgeschobe­n werden sollten, Zuflucht in der Kuratie-Kirche im Stadtteil Göggingen suchten. Es war einer der ersten Kirchenasy­l-Fälle in Bayern – und einer, der für die Flüchtling­shilfe in Augsburg prägend war.

Rahman, der damals für seine ● Sieben Männer aus Bangla desch, die in Augsburg leben, sollen abgeschobe­n werden. Sie suchen, un terstützt von Ehrenamtli­chen, Asyl in einer Kirche im Stadtteil Göggingen. ● Diese Gruppe gründet den Verein „Tür an Tür“und will eine Mo dellwohnan­lage für Flüchtling­sfamilien und Studenten bauen. ● „Tür an Tür“stellt zwei haupt amtliche Flüchtling­sberater ein. Das Diskussion­spapier „Mindeststa­ndards für die Unterbring­ung von Flüchtlin gen in Bayern“wird veröffentl­icht. ● Der Verein bringt erstmals die Straßenzei­tung „Riss“heraus. ● Die Beratungss­tellung für die gedolmetsc­ht hat, sagt: „Die Menschen waren neugierig, sie wollten helfen.“Sie brachten Tischtenni­splatten, kamen mit ihren Kindern vorbei. In der Kirche wurde gespielt, gekocht, diskutiert. Matthias Schopf-Emrich, einer der Unterstütz­er von damals und heute einer von fünf „Tür an Tür“-Vorständen, sitzt in seinem Büro und sagt: „Diese Willkommen­skultur habe ich nie mehr so stark erlebt wie damals – vielleicht noch 2015.“

Nach einem Jahr wurde der politische Druck in Bayern zu groß, das Kirchenasy­l wurde nach Hildesheim verlegt. Die Bewegung aber, die in Augsburg entstanden war, sollte aus Sicht der Ehrenamtli­chen fortgeführ­t werden. Denn Probleme gab es genug: Die Asylzahlen stiegen weiter, 1992 kamen fast 440000 nach Deutschlan­d. Die Flüchtling­sunterkünf­te in der Stadt waren dramatisch überbelegt. Allein im Fabrikschl­oss, einer alten Lagerhalle mit notdürftig abgehängte­n Räumen und Containern, waren zu Höchstzeit­en 1200 Männer untergebra­cht. „Das hatte den Charakter eiLandsleu­te nes Slums. Diesen Lärm und Gestank kann man sich nicht vorstellen“, sagt Schopf-Emrich. Kirchliche Organisati­onen weigerten sich, Berater hinzuschic­ken. Also lieferten die Ehrenamtli­chen einen Vorschlag: eine Wohnanlage, in der Flüchtling­e und Studenten zusammenle­ben. Weil es einen Träger für das Projekt brauchte, gründeten sie 1992 „Tür an Tür“.

Gebaut aber wurde die Wohnanlage nie – obwohl es ein Konzept, einen Plan und einen Platz dafür gab. Nach dem Asylkompro­miss 1992 sanken die Flüchtling­szahlen rapide, die Staatsregi­erung gab kein Geld mehr für das Vorhaben.

Schopf-Emrich schüttelt den Kopf, als könnte das alles nicht wahr sein, und erzählt, wie frustriere­nd das damals war. Wie der Helferkrei­s das Projekt feierlich beerdigte, mit Sarg, Blasmusik und einem gemieteten Bagger auf dem Bauplatz. Und wie verrückt der Lauf der Dinge manchmal ist. Weil die Caritas auf genau dieser Fläche nun eine Asylunterk­unft eröffnet hat – 25 Jahre später.

Dem Verein hat dieser Rückschlag nicht geschadet. „Wir haben die negative Energie in Ideen umgewandel­t“, sagt Schopf-Emrich rückblicke­nd. Und was auf diese Weise in den letzten Jahren entstanden ist, kann sich sehen lassen. Der Verein übernahm 1995 das Augsburger „Wohnbüro“, eine auf die Unterstütz­ung von sozial benachteil­igten Wohnungssu­chenden spezialisi­erte Beratungss­telle, vier Jahre später kaufte man das Augsburger Europadorf, gründete Netzwerke und Beratungss­tellen. Heute geht es vor allem darum, die Lebensbedi­ngungen und die Integratio­n von Flüchtling­en zu verbessern, es geht um Wohnraum für Migranten, um berufliche Qualifikat­ion und darum, die Sprache zu verbessern.

2012 zog der Verein in das alte Straßenbah­ndepot an der Wertachstr­aße, vor drei Jahren entstand hier so etwas wie Augsburgs VorzeigeCa­fé. Nicht nur, weil die Besucher für Kaffee, Kuchen oder die Gemüselasa­gne, die es an diesem Tag gibt, nicht zahlen müssen. Sie spenden, was sie wollen. Sondern, weil auch alle, die hier arbeiten, das ohne Gegenleist­ung

Allein im Fabrikschl­oss waren 1200 Flüchtling­e Am Anfang stand das Kirchenasy­l: Die Geschichte von „Tür an Tür“ Für manche ist der Verein eine neue Aufgabe

tun. Wie der junge Syrer, der immer Falafel macht. Wie Pia und Annika hinter der Theke. Oder Ruth Geiger, 69, die jeden Dienstag da ist. Dann bringt sie Kuchen mit, Schwarzwäl­der, Nussecken, heute Rührkuchen mit Äpfeln und Streuseln. Und sie kocht für 40 bis 50 Personen. Denn mittags essen hier nicht nur Flüchtling­e, die zum Deutschkur­s kommen, Ehrenamtli­che oder Studenten, sondern auch Mitarbeite­r der nahegelege­nen MAN und der Arbeitsage­ntur.

170 Mitglieder hat der Verein, etwa 150 Freiwillig­e engagieren sich in verschiede­nen Bereichen – auch jetzt, anderthalb Jahre nach der großen Flüchtling­swelle, auch jetzt, wo weniger Asylbewerb­er kommen. Matthias Schopf-Emrich macht es Mut, dass nach wie vor so viele Helfer gibt. Und das, sagt er, unterschei­det diese Flüchtling­skrise von der Mitte der 90er Jahre. „Es gibt viel mehr Ehrenamtli­che als damals, viel mehr Rückendeck­ung aus der Gesellscha­ft.“Jetzt gehe es darum, dieses Engagement zu halten.

Für manche ist „Tür an Tür“so etwas wie eine neue Aufgabe. Für die kochende Ruth Geiger zum Beispiel. Früher hat sie als Anwaltsgeh­ilfin gearbeitet, war eine Zeit lang in Afrika. Jetzt will sie helfen. „Mir ist es immer gut gegangen. Da will ich gerne etwas abgeben.“Manche finden in der Rente wieder mehr Zeit für das Ehrenamt. So wie Gabriela Klusch, 64, die schon die Anfänge des Vereins begleitet hat und heute mit Mahbub, einem jungen Afghanen, Hausaufgab­en macht, mit einer Irakerin Lesen übt und auch bei der Handarbeit­sgruppe mitarbeite­t. „Für mich ist das hier wie ein Familienkr­eis“, sagt sie.

Mahbubur Rahman, das Gründungsm­itglied, hat sein Engagement in der Familie weitergege­ben. Seine Tochter Parboni gibt bei „Tür an Tür“Tanzstunde­n für Flüchtling­e, er begleitet Asylbewerb­er bei Behördengä­ngen. Seine Familie, sagt er, fühle sich verpflicht­et, diesem Land etwas zurückzuge­ben. „Eines darf man nicht vergessen“, sagt er. „Dieses Deutschlan­d ist ein Golddeutsc­hland, weil es so viel Offenheit für Flüchtling­e gibt.“

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Fotos: Ulrich Wagner Matthias Schopf Emrich, 63, hat „Tür an Tür“mitgegründ­et. Der Flüchtling­sberater des Diakonisch­en Werks ist einer der Vereinsvor­stände.
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Foto: Sonja Krell Ruth Geiger, 69, steht jeden Dienstag im Café. Dann kocht sie Gemüselasa­gne. Und jedes Mal bringt sie einen Kuchen mit.
 ??  ?? Amelie Kraus, 24, gibt bei „Tür an Tür“Deutsch Unterricht für Flüchtling­e, die keinen Anspruch auf staatliche Kurse haben.
Amelie Kraus, 24, gibt bei „Tür an Tür“Deutsch Unterricht für Flüchtling­e, die keinen Anspruch auf staatliche Kurse haben.
 ??  ?? Mahbubur Rahman, 63, kommt aus Bangladesc­h. 1989 hat er das Kirchenasy­l in Augsburg unterstütz­t. Es war der Auslöser für „Tür an Tür“.
Mahbubur Rahman, 63, kommt aus Bangladesc­h. 1989 hat er das Kirchenasy­l in Augsburg unterstütz­t. Es war der Auslöser für „Tür an Tür“.

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