Ein Lehrstück über das Versagen der politischen Klasse Leitartikel
Macron, der Mann der Mitte, oder die Rechtsradikale Le Pen? In Frankreich steht auch die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel
Frankreich trifft eine historische Richtungsentscheidung. Auf dem Spiel steht nicht nur die Zukunft der großen Nation, sondern auch der Fortbestand der Europäischen Union. Das dramatische, allzu häufig benutzte Wort „Schicksalswahl“– hier trifft es zu. Denn ein Sieg der rechtsradikalen, auf die Zerstörung der EU abzielenden „Front National“-Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen wäre eine Katastrophe für Europa und stürzte den alten, bereits von Krisen gebeutelten Kontinent in eine Existenzkrise.
Die EU mit einem Frankreich, das nationalistisch agiert, Mauern hochzieht und die Partnerschaft mit Deutschland aufkündigt: Das käme, nach dem Ausstieg der Briten, einem Ende der Einheit Europas gleich. Ob dieses Schreckensszenario eintrifft, werden wir erst am Abend des 7. Mai wissen. Es sieht zum Glück so aus, als ob der junge, proeuropäische, wie aus dem Nichts aufgetauchte Senkrechtstarter Emmanuel Macron im Kampf gegen Le Pen obsiegen wird – getragen von jener zerbröselnden politischen Mitte, der vor einem radikalen Experiment graut und die dem ohne den Rückhalt einer Partei angetretenen Ex-Zögling Hollandes einigen Kredit einräumt. Ein Rest von Unsicherheit bleibt, haben doch die Demoskopen weder den Brexit noch die Wahl Trumps kommen sehen. Doch müsste nach allem, was zur Stunde über die Stimmungslage bekannt ist, schon der Himmel über Frankreich einstürzen, damit der Weg für Le Pen geebnet würde.
Frankreich ist ein tief gespaltenes Land, von ökonomischem Niedergang und hoher Arbeitslosigkeit geplagt, das die nötigen Reformen versäumt hat und heute der kranke Mann Europas ist. Der Aufstieg des ausländer- und islamfeindlichen Front National hat mit diesen Problemen, dem Versagen der Volksparteien, der Abgehobenheit der Eliten, der misslungenen Integration vieler muslimischer Einwanderer und den terroristischen Attacken zu tun. Es ist diese Gemengelage, die der Rechtspopulistin Millionen von Menschen in die Arme getrieben und auf der anderen Seite des Spektrums zugleich die extreme Linke gestärkt hat. Unter der Wucht der Attacken von ganz links und ganz rechts ist das Parteiensystem kollabiert. Sozialisten und Republikaner, die stets die Präsidenten stellten, liegen am Boden. Die Mitte ist eingekesselt von antieuropäischen Extremisten, die im ersten Wahlgang zusammen 41 Prozent erzielt haben. Dass ein Mann wie Macron nun dank seiner erst vor einem Jahr gegründeten „Bewegung“das letzte Bollwerk gegen Le Pen bildet und mutmaßlich das mythenumwobene, mit großer Macht ausgestattete Amt erobert, ist ein Novum in der jüngeren Geschichte europäischer Demokratien. Deutschland ist politisch viel stabiler als Frankreich, wo das Vertrauen in das „Establishment“noch weit tiefer gesunken ist. Doch lehrt das französische Schauspiel, dass auch scheinbar gefestigte Demokratien unter populistischem Trommelfeuer in schwere Turbulenzen geraten können – wenn die Wirtschaft darniederliegt, viele Bürger und ganze Regionen „abgehängt“sind, die Politik das Vertrauen der Menschen eingebüßt hat und die Sorgen vor einer kulturellen Überfremdung durch Massenzuwanderung nicht ernst genug genommen werden.
Ob der Sozialliberale Macron das Zeug zum großen Reformer hat und eine Mehrheit im Parlament findet? Man wird sehen. Sicher ist nur: Scheitert auch er und findet Frankreich nicht heraus aus der Krise, droht 2022 eine Präsidentin Le Pen. Sie ist ja schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen – als Profiteurin jenes Überdrusses, den eine selbstverliebte, reformunfähige, auf das Volk herabblickende Führungselite erzeugt hat.
Populistische Attacken von ganz links und ganz rechts