Illertisser Zeitung

Mein Großvater, der Täter

Mit der NS-Zeit hat sich Chris Kraus bereits als Filmemache­r beschäftig­t. Nun legt er einen Roman vor, der auf der eigenen Familienge­schichte gründet

- VON LILO SOLCHER Spiegel

Ein Monsterbuc­h, eine monströse Geschichte. Der mehrfach ausgezeich­nete Filmregiss­eur Chris Kraus („Vier Minuten“), Jahrgang 1963, rechnet in „Das kalte Blut“auf 1200 Seiten mit der jüngeren deutschen Geschichte ab – und mutet seinen Lesern dabei ganz schön viel zu. Kein Wunder, dass der arme kranke Hippie, dem der alte Konstantin (Koja) Solm 1974 im Krankenhau­s seine Geschichte und die seines Bruders erzählt, fast verrückt wird. Dabei ist es größtentei­ls keine erfundene Geschichte, die Kraus seinen Protagonis­ten erzählen lässt. Es ist die Geschichte seines Großvaters.

Auch in seinem für den deutschen Filmpreis nominierte­n Film „Die Blumen von gestern“mit Lars Eidinger hat sich der Regisseur und Autor bei seiner Familienge­schichte bedient und daraus eine eher tragikomis­che Liebesgesc­hichte zwischen einem Täter-Enkel und einer Opfer-Enkelin gemacht.

Ganz anders der Roman, der die Verstricku­ngen der Nazi- und der Nachkriegs­zeit aus der Sicht eines Täters beschreibt. „Es war mir wichtig, dass das jemand ist, zu dem man Empathie entwickelt“, sagte Chris Kraus in einem Interview. „Ich wollte verstehen, wie ein kluger, charismati­scher Mensch, der Bildung atmet und sich für das Schöne im Leben interessie­rt, in diese Taten verstrickt werden konnte.“

In dem breit angelegten Roman lässt Kraus den Großvater selbst zu Wort kommen. Dessen Alter Ego ist der Deutschbal­te Koja, Sohn eines labilen Künstlers und einer stolzen Aristokrat­in und jüngerer Bruder Theologies­tudenten Hub, der sich zum fanatische­n Nationalso­zialisten wandelt.

Auch Koja wird Nazi, das politische Engagement verbindet die Brüder ebenso wie die Liebe zu Ev, die als angenommen­e Schwester in der Familie aufwächst und erst spät erfährt, dass sie eigentlich Jüdin ist. Sie heiratet den Älteren und bekommt vom Jüngeren ein Kind, wird als Lagerärzti­n mit der Mordmaschi­nerie der Nazis konfrontie­rt und engagiert sich nach dem Krieg beim israelisch­en Geheimdien­st Mossad, um NS-Verbrecher zur Strecke zu bringen.

Koja und Hub kommen zunächst als klassische­s Gegensatzp­aar daher: guter Nazi, böser Nazi. Während der von Koja bewunderte Hub die Drecksarbe­it übernimmt, darf Koja sich lange als Tagedieb und Künstler fühlen, bis er selbst in einem Erschießun­gskommando landet. Und doch rechtferti­gt er sich später vor seinem unfreiwill­igen Hippie-Zuhörer, sieht sich als den Guten inmitten des Bösen. Mal hat er aus Mitleid getötet, mal aus Liebe Verrat geübt. Immer in dem Bewusstsei­n, dass er Unrecht tat. Doch in einer aus den Fugen geratenen Welt sind moralische Grundsätze Luxus. Anpassung ist eine Frage des Überlebens, und Koja will um jeden Preis überleben.

Zu seiner späten Rechtferti­gung breitet er all das Grauen, das er erlebt und überlebt, das er sich und anderen zugemutet hat, vor seinem geschockte­n Zimmernach­barn aus. Und wie der Hippie würde man sich auch als Leser gerne mal wegdredes hen, sich die Augen und Ohren zuhalten, um diese schrecklic­hen Bilder zu verscheuch­en, die Koja heraufbesc­hwört. Ja, Chris Kraus kann erzählen, filmreif. Der Leser folgt ihm teils fasziniert, teils angewidert auf diesem windungsre­ichen Lebensweg, der die Brüder von der SS zum BND bringt, wobei Koja dem Ganzen die Spitze aufsetzt, indem er mit Ev in die Dienste des Mossad tritt, als Jude mit dem Namen Himmelreic­h.

Vielleicht übertreibt es Chris Kraus manchmal, wenn er Koja mit den wichtigste­n Protagonis­ten der Zeitgeschi­chte zusammenko­mmen lässt. Mit Himmler und Heydrich, mit Adenauer, Heuss und Heinemann, mit Isser Harel und Shimon Peres. Und natürlich mit Reinhard Gehlen, dessen unrühmlich­er Rolle bei der missglückt­en Entnazifiz­ierung der unlängst eine Titelgesch­ichte gewidmet hat. Doch Kraus gelingt es mit dieser Methode, seine Leser mit der Nase auf die schockiere­nde Tatsache zu stoßen, dass Nazis im Nachkriegs­deutschlan­d an entscheide­nden Positionen saßen.

Im Nachwort führt Kraus viele Autoren und Bücher auf, denen er seine Informatio­nen verdankt, unter anderem das Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörd­er wurden“des Kulturwiss­enschaftle­rs Harald Welzer. Der Titel, schreibt er, könnte auch zu seinem Roman passen. Was Welzer wissenscha­ftlich abhandelt, hat Kraus literarisc­h verarbeite­t – zu einem ungeheuren Sittenbild des vergangene­n Jahrhunder­ts.

»

1187 S., 32 ¤ Diogenes,

 ?? Foto: Maurice Haas/Diogenes ?? Filmemache­r und Schriftste­ller: Chris Kraus.
Foto: Maurice Haas/Diogenes Filmemache­r und Schriftste­ller: Chris Kraus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany