Plötzlich ist man mittendrin in der Luther Welt
Wittenberg ist ein beschauliches Städtchen, in dem die meisten Menschen mit Religion nichts am Hut haben. Aber eben auch ein Städtchen, in dem einst ein Weltereignis für Christen stattfand. Warum dort jetzt der Teufel los ist
Als Martin Luther vor 500 Jahren seine weltberühmten 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche hämmerte, tat er das in einer mittelalterlichen Stadt, in der Ochsenkarren über holprige Straßen ruckelten und Ablasshändler mit ihrer Vision des Fegefeuers Angst und Schrecken verbreiteten. Er tat es in einer Stadt, deren Bewohner nach Missernten ums Überleben kämpften. Und er tat es im Umfeld einer der damals bedeutendsten Universitäten Europas, die Gelehrte und mit ihnen revolutionäre Ideen anzog. Wer Wittenberg im Frühling 2017 besucht, kurz vor Beginn des Evangelischen Kirchentags, findet eine beschauliche, herausgeputzte, fast verschlafene Stadt vor. Ein Stückchen heile Welt. Eine Stadt, die nach zehnjähriger Planungszeit in den letzten Vorbereitungen für das Reformationsjubiläum steckt, das den Sommer über rund eine Million Menschen anziehen soll. Und eine Stadt, in der die meisten der 50000 Einwohner mit Kirche und Reformation nichts mehr am Hut haben.
Christine Schajka steht ratlos im Innenhof des Lutherhauses, jenem ehemaligen Kloster, das der Reformator später als Privathaus nutzte. Inmitten verblühter Magnolienbäume wird wenige Tage vor dem offiziellen Startschuss des Reformationssommers neues Kopfsteinpflaster dass so viele Touristen kommen, sagt der Verkäufer, der seine Luther-Tomaten am Marktplatz anbietet. Aber sich das Ganze mal selbst anschauen? „Keine Zeit“brummt er. Eine Antwort, wie sie aus den Mündern vieler Wittenberger kommt. Es gibt aber auch andere Stimmen. „Ich bin ganz ehrlich, ich bin nicht gläubig“, sagt die Verkäuferin einer Chocolaterie und stemmt die Hände in die Hüften. Dann strahlt sie. „Aber wahnsinnig aufgeregt bin ich trotzdem. Das muss man sich mal überlegen, andere kommen von was weiß ich woher, und wir sind mittendrin! So etwas erlebt man nur einmal im Leben.“Die Konsequenz ist: Anstelle eines Sommerurlaubs gibt es in diesem Jahr eine Jahreskarte für den Reformationssommer. Eine Riesenchance sei das alles für die Stadt.
Sie ist nicht die Einzige, die dem historischen Ereignis inzwischen mit Spannung entgegenblickt. Hier wird Geschichte geschrieben, heißt es. Wenn Johannes Block, Pfarrer der Stadtkirchengemeinde, sein Pfarrhaus verlässt, die wenigen Meter bis zum Marktplatz geht und dabei sieht, wie präsent Luther hier heute noch ist, dann verspürt er eine beinahe diebische Freude. „Die kirchlich entwöhnte Bürgerschaft soll sehen, dass wir keine Mittelalterkirche mehr sind“, sagt er.
Und doch: Die zwei Diktaturen, die braune und die rote, während derer die Kirche erst als zu wenig
Die ersten Vorboten sind schon da Die Diktaturen haben ihre Spuren hinterlassen