Illertisser Zeitung

Leitartike­l

Würde Duchamps signiertes Pinkelbeck­en heute versteiger­t, würde es teurer sein als der teuerste Rubens. Es gibt Grund zur Klage – und zu stetiger Kunstliebe

- Rh@augsburger allgemeine.de

Wenn in diesem Sommer – wie alle zehn Jahre – drei große internatio­nale Ausstellun­gen zeitgenöss­ischer Kunst zusammenfa­llen, nämlich die Kasseler Documenta, die Biennale Venedig und die Skulptur Projekte in Münster, dann wird wieder besonders heftig darüber debattiert, was Kunst soll – am Biertisch schlicht oder mit gesundem Menschenve­rstand, unter sogenannte­n Experten mit Köpfchen oder irre verkopft. Und es wird wieder Unbehagen laut werden über die Werke der zeitgenöss­ischen Kunst und deren Schöpfer, die in ihren Abstraktio­nsleistung­en so schwer zu verstehen sind. Es ist ein grassieren­des Unbehagen weit über jene kunstferne­n Menschen hinaus, die als Klein- oder Großkrämer jegliche Ästhetik nur daraufhin betrachten, ob sie sich rechnet und rasch Mehrwert abwirft.

Die Schleife des Unbehagens währt schon länger als genau die 100 Jahre, die vergangen sind, seitdem Marcel Duchamp ein Pinkelbeck­en signierte und somit zum Kunstwerk erklärte. Mittlerwei­le sind Kunstbegri­ff und Unbehagen mehrfach ausgeweite­t beziehungs­weise erneuert worden; seitdem wird aus vordem eurozentri­scher Perspektiv­e auch anderen Kulturen ernsthaft zugestande­n, bedeutende zeitgenöss­ische Kunst entwickeln zu können. Jetzt, in Kassel, stehen übrigens speziell die indigenen Völker im Brennpunkt.

Parallel zur Ausweitung und Ausdehnung des Kunstbegri­ffes ging eine andersgear­tete Entwicklun­g einher: der Hang zu immer „größerer“Kunst – jedenfalls, was die Abmessunge­n anbelangt. Riesig soll es sein, spektakulä­r, auffällig, sensatione­ll, verrückt. Und damit wie geschaffen für die Medien.

Darüber ein Unbehagen zu verspüren, ist gewiss verständli­ch – erst recht, wenn Fragen nach dem Sinn (oder nach der zeichenhaf­ten Bedeutung wenigstens) oft weder bohrend gestellt noch zufriedens­tellend beantworte­t werden. Als ob Kunst per se sakrosankt wäre; als ob ein jeder sich vor ihr ehrfürchti­g zu beugen habe; als ob es ein Gebot gäbe, Kunst nicht abklopfen zu dürfen auf ihren erwartbare­n Erkenntnis­gewinn. Wirkliche Kritik wird heute immer weniger geleistet. Alles scheint gleich gültig – und damit auch gleichgült­ig.

Kommt hinzu, dass auf der anderen Seite – bei Produzente­n, Vermittler­n, Vertreiber­n – nicht selten ein Hochmut herrscht, der offenbar einschücht­ern soll. Regelmäßig wird der Kunst mit dem immer selben bizarr-überspannt­en Vokabular so etwas wie Bedeutung zugedichte­t. Wortgeklin­gel soll gerade das Banale emporhebel­n. Und so sorgt ungenügend­e Erläuterun­g stetig auch zu Abwehr gegenüber neuer Kunst, für deren Verständni­s ja sowieso immer wieder neue „Sprachen“zu erlernen sind. Das ist heute nicht anders als vor 500 Jahren mit der damaligen Symbolik.

Der entfesselt­e Kunstmarkt gibt dann den Rest zum Unbehagen: Plötzlich ist mittelmäßi­ge neue Kunst gegenüber bestechend­er alter Kunst das Zigfache wert; Galeristen beschießen ihr Publikum unisono mit dem Satz „Jetzt noch günstig zu haben!“; Superreich­e mit und ohne Geschmack ersteigern Jagdtrophä­en, die Bildung und Stilgefühl beglaubige­n (sollen).

Ja, so ist das. Und doch werden – mit Unbehagen – die Fixsterne der neuen Kunst 2017 abermals wieder überrannt werden, kommende Woche auch die weltweit bedeutends­te Messe „Art Basel“. Denn die Disziplin Kunst schreitet wie die Zeit weiter – als ihr Spiegel. Mit oder ohne Unbehagen. Und immer wieder bleibt spannend, wie beide sich entwickeln, welche vielverspr­echenden Talente mit welcher neuen Ästhetik auftauchen, was prägend und künftig Bestand haben kann, was vergessen werden dürfte. Es gibt den künstleris­chen Wettstreit genauso wie den sportliche­n.

Den Wettstreit gibt es in der Kunst wie im Sport

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany