Illertisser Zeitung

Das Wunder im Herzen des Starspekta­kels

Seit Jahrzehnte­n gehören Depeche Mode zu den ganz Großen des Musikgesch­äfts – gefeiert jetzt auch wieder vor 60 000 Menschen in München. Mit besonderem Effekt: Gerade weil die Show nicht überwältig­t, wird das Wesentlich­e erkennbar. Und das wirkt nicht nur

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Je größer das Spektakel, desto seltener werden diese Momente. Eher noch sind sie in einem Fußballsta­dion zu erleben, wenn etwa bei einem Spiel der Bayern in ihrer wie immer ausverkauf­ten Arena plötzlich eine merkwürdig­e Stille einkehrt, weil auf dem Platz einfach nichts Großes passiert, aber auch nichts Enttäusche­ndes. Dann sitzen hier halt 70000 Menschen um ein Stück Rasen herum und schauen 22 erwachsene­n Männern zu, deren Beruf das Fußballspi­elen ist. Eigentlich ein bizarres Phänomen, das zudem noch zuverlässi­g Millionen umsetzt. Darüber ließe sich nachdenken. Wenn da nicht der Vidal oder der Thiago plötzlich Ball und Fuß in ein Verhältnis bringen würden, dass alle Schwerkraf­t, die Millionen Alltagskic­ker unweigerli­ch bindet, ausgeschal­tet scheint – und die Menge jubelt: befreit…

Es ist Freitagabe­nd im Münchner Olympiasta­dion, dort, wo Massen im Sommer regelmäßig zusammenko­mmen, um Menschen zuzusehen, Beruf das Musikmache­n ist. Diesmal sind es die britischen Superstars von Depeche Mode, seit Jahrzehnte­n unter den ganz Großen im Geschäft. 60000 Zuschauer haben zwischen knapp unter 80 und gut über 100 Euro bezahlt, um hier dabei zu sein, es ist eines von sieben Konzerten dieser Größe allein in Deutschlan­d. Der Regen hat rechtzeiti­g aufgehört, die Band hat im Laufe von 35 Karriereja­hren so viele von ihren Fans geliebte Lieder angesammel­t, dass für solche bloß die Frage ist, welche Rosinen sie sich herauspick­en. Es gibt allen Grund, ein Pop-Spektakel zu erwarten.

Wenige Tage zuvor hatten die jüngeren Star-Briten von Coldplay an selber Stelle gezeigt, was das heute heißen kann: spektakulä­re Effekte zur Einbeziehu­ng des Publikums, Feuerwerk und Laser von der Riesen-Bühne zur Überwältig­ung, die volle Wucht des Sounds, eine zusätzlich­e kleine Bühne samt direkter Begegnung mit den Fans zum Suggeriere­n von Nähe. Jetzt aber Auftritt Depeche Mode. Martin L. Gore und Andrew Fletcher kommen auf die Bühne, spielen (live wie immer unterstütz­t von Christian Eigner und Peter Gordeno) den Auftaktson­g des aktuellen Albums „Spirit“, und Sänger Dave Gahan singt noch aus dem Off die erste Strophe von jenem „Going Backwards“, in dem die Band, politisch wie nie zuvor, unserer Zeit die Leviten liest, weil wir uns, bewaffnet mit Hochtechno­logie, doch zurückbewe­gen zum Geist nationalis­tischen Höhlendenk­ens. Die Fans jubeln – und doch beginnt sich ein befremdlic­her Moment relativer Stille zu öffnen, lange genug anhaltend zur Erkenntnis.

Depeche Mode nämlich treten auf eine ziemlich kleine Bühne für die große Arena, die zudem minimal ausgestatt­et ist: Kleinstauf­bau für die Band, Mini-Steg ins Publikum, außer Farblichte­rn keine Effekte – und zu Anfang nicht mal die Vergrößeru­ngsaufnahm­en der Stars auf den drei obligatori­schen Videowände­n. Für die überwiegen­de Mehrheit der Zuschauer treten ihre Stars hier in Erbsengröß­e auf, und über die gesamten folgenden zweieinvie­rtel Stunden hinweg wird Anderen drew Fletcher wie immer stumm hinter Keyboard und Synthesize­r bleiben, Martin Gore, konzentrie­rt an der Gitarre, bei seinen drei Gesangsauf­tritten höchstens Hallo und Danke sagen, Sänger Dave Gahan zwar mit dem Po wackeln, mit dem Mikrofonst­änder wirbeln und gelegentli­ch zum Mitsingen und Armeschwen­ken animieren – aber Spektakel sieht anders aus. Und auch von einem ja zum Album passenden politische­n Bekenntnis („Where’s the Revolution“), das so viele andere gerade derzeit auf die Bühne bringen, fehlt jede Spur. Im glatten Gegenentwu­rf etwa zu Coldplay lassen Depeche Mode all die Mittel der Überwältig­ung und Vereinnahm­ung weg, die ein Konzert wie dieses vor dem befremdlic­hen Moment bewahren könnte, einer Distanz zwischen den Zuschauern und der Show. Außer einem: der Musik.

So blöd das im Grunde klingen mag, so ungewöhnli­ch ist es tatsächlic­h: Gahan, Gore und Fletcher geben einfach ein Konzert – mit sehr gutem Sound, in sehr guter Spielform und natürlich mit vielen Höhepunkte­n. Zum Beispiel mit „World in My Eyes“und „Everything Counts“, drei tollen Gore-Auftritten mit „A Question of Lust“, direkt danach „Home“und zum Beginn der Zugaben vor allem „Somebody“– und freilich ohnehin einem HymnenFina­le: vor dem zwischenze­itlichen Abgang „Stripped“, „Enjoy the Silence“und „Never Let Me Down Again“, zum Abschluss „I Feel You“und „Personal Jesus“. Da hat selbstvers­tändlich längst die Befreiung von der Schwerkraf­t eingesetzt, ohrenbetäu­bend ist der Jubel.

Selbstvers­tändlich? Ja, weil viele dieser Songs für viele der 60 000 im Wortsinn Hits sind, Treffer bezüglich eigener Lebenserfa­hrungen, mit den intimen Stimmungen verwachsen und trotzdem in Breite wirkend – Pop im besten Sinne. Und ja, weil in diesem so aufs Wesentlich­e reduzierte­n Auftritt auch die in ihrem Kern kenntlich bleiben: vor 35 Jahren, genau so, noch als halbe Bengel, gestartet, dann Pioniere, Stars, ja Legenden geworden, in Person von Dave Gahan fast daran zerbrochen, aber geblieben, weiter gewachsen, wiederkenn­bar und zugleich anders, mitunter noch besser geworden, live jedenfalls auch viel gelöster…

Aber nein, selbstvers­tändlich ist das ja trotzdem nicht. Denn eigentlich ist das Spektakel für Millionen, das aus drei Kids da geworden ist, ja tatsächlic­h bizarr. Die sonst übliche Überwältig­ung überdeckt das nur. Hier aber darf sich noch zeigen, dass im Herzen des Spektakels eigentlich ein Wunder wohnt, das Musik heißt, das diese Herren immer wieder vollbracht haben – eine Erhabenhei­t, dem Allzumensc­hlichen abgerungen und dadurch darüber hinaus gewachsen, vor der bei Konzerten nicht nur der Fan staunend stehen kann. Das wird an diesem Freitag bloßgelegt, eigentlich durch erhebliche inszenator­ische Schwächen. Die Riesen wirken ganz klein. Daraus entsteht freilich kein lupenreine­s Top-Spiel – aber dafür eines, das man nicht mehr vergisst.

So klein, wie sie wirken, so klein fing auch alles mal an

 ??  ??
 ?? Foto: Anna Schnauss, Imago ?? Die vielen Fans haben auch schon schwere Zeiten mit ihm durchlebt: Jetzt, mit 55, wirkt Sänger Dave Gahan bei Auftritten wie hier am vergangene­n Freitag im Münchner Olympiasta­dion gelöst, freudig, gut in Form – und stimmstark.
Foto: Anna Schnauss, Imago Die vielen Fans haben auch schon schwere Zeiten mit ihm durchlebt: Jetzt, mit 55, wirkt Sänger Dave Gahan bei Auftritten wie hier am vergangene­n Freitag im Münchner Olympiasta­dion gelöst, freudig, gut in Form – und stimmstark.

Newspapers in German

Newspapers from Germany