Das Wunder im Herzen des Starspektakels
Seit Jahrzehnten gehören Depeche Mode zu den ganz Großen des Musikgeschäfts – gefeiert jetzt auch wieder vor 60 000 Menschen in München. Mit besonderem Effekt: Gerade weil die Show nicht überwältigt, wird das Wesentliche erkennbar. Und das wirkt nicht nur
Je größer das Spektakel, desto seltener werden diese Momente. Eher noch sind sie in einem Fußballstadion zu erleben, wenn etwa bei einem Spiel der Bayern in ihrer wie immer ausverkauften Arena plötzlich eine merkwürdige Stille einkehrt, weil auf dem Platz einfach nichts Großes passiert, aber auch nichts Enttäuschendes. Dann sitzen hier halt 70000 Menschen um ein Stück Rasen herum und schauen 22 erwachsenen Männern zu, deren Beruf das Fußballspielen ist. Eigentlich ein bizarres Phänomen, das zudem noch zuverlässig Millionen umsetzt. Darüber ließe sich nachdenken. Wenn da nicht der Vidal oder der Thiago plötzlich Ball und Fuß in ein Verhältnis bringen würden, dass alle Schwerkraft, die Millionen Alltagskicker unweigerlich bindet, ausgeschaltet scheint – und die Menge jubelt: befreit…
Es ist Freitagabend im Münchner Olympiastadion, dort, wo Massen im Sommer regelmäßig zusammenkommen, um Menschen zuzusehen, Beruf das Musikmachen ist. Diesmal sind es die britischen Superstars von Depeche Mode, seit Jahrzehnten unter den ganz Großen im Geschäft. 60000 Zuschauer haben zwischen knapp unter 80 und gut über 100 Euro bezahlt, um hier dabei zu sein, es ist eines von sieben Konzerten dieser Größe allein in Deutschland. Der Regen hat rechtzeitig aufgehört, die Band hat im Laufe von 35 Karrierejahren so viele von ihren Fans geliebte Lieder angesammelt, dass für solche bloß die Frage ist, welche Rosinen sie sich herauspicken. Es gibt allen Grund, ein Pop-Spektakel zu erwarten.
Wenige Tage zuvor hatten die jüngeren Star-Briten von Coldplay an selber Stelle gezeigt, was das heute heißen kann: spektakuläre Effekte zur Einbeziehung des Publikums, Feuerwerk und Laser von der Riesen-Bühne zur Überwältigung, die volle Wucht des Sounds, eine zusätzliche kleine Bühne samt direkter Begegnung mit den Fans zum Suggerieren von Nähe. Jetzt aber Auftritt Depeche Mode. Martin L. Gore und Andrew Fletcher kommen auf die Bühne, spielen (live wie immer unterstützt von Christian Eigner und Peter Gordeno) den Auftaktsong des aktuellen Albums „Spirit“, und Sänger Dave Gahan singt noch aus dem Off die erste Strophe von jenem „Going Backwards“, in dem die Band, politisch wie nie zuvor, unserer Zeit die Leviten liest, weil wir uns, bewaffnet mit Hochtechnologie, doch zurückbewegen zum Geist nationalistischen Höhlendenkens. Die Fans jubeln – und doch beginnt sich ein befremdlicher Moment relativer Stille zu öffnen, lange genug anhaltend zur Erkenntnis.
Depeche Mode nämlich treten auf eine ziemlich kleine Bühne für die große Arena, die zudem minimal ausgestattet ist: Kleinstaufbau für die Band, Mini-Steg ins Publikum, außer Farblichtern keine Effekte – und zu Anfang nicht mal die Vergrößerungsaufnahmen der Stars auf den drei obligatorischen Videowänden. Für die überwiegende Mehrheit der Zuschauer treten ihre Stars hier in Erbsengröße auf, und über die gesamten folgenden zweieinviertel Stunden hinweg wird Anderen drew Fletcher wie immer stumm hinter Keyboard und Synthesizer bleiben, Martin Gore, konzentriert an der Gitarre, bei seinen drei Gesangsauftritten höchstens Hallo und Danke sagen, Sänger Dave Gahan zwar mit dem Po wackeln, mit dem Mikrofonständer wirbeln und gelegentlich zum Mitsingen und Armeschwenken animieren – aber Spektakel sieht anders aus. Und auch von einem ja zum Album passenden politischen Bekenntnis („Where’s the Revolution“), das so viele andere gerade derzeit auf die Bühne bringen, fehlt jede Spur. Im glatten Gegenentwurf etwa zu Coldplay lassen Depeche Mode all die Mittel der Überwältigung und Vereinnahmung weg, die ein Konzert wie dieses vor dem befremdlichen Moment bewahren könnte, einer Distanz zwischen den Zuschauern und der Show. Außer einem: der Musik.
So blöd das im Grunde klingen mag, so ungewöhnlich ist es tatsächlich: Gahan, Gore und Fletcher geben einfach ein Konzert – mit sehr gutem Sound, in sehr guter Spielform und natürlich mit vielen Höhepunkten. Zum Beispiel mit „World in My Eyes“und „Everything Counts“, drei tollen Gore-Auftritten mit „A Question of Lust“, direkt danach „Home“und zum Beginn der Zugaben vor allem „Somebody“– und freilich ohnehin einem HymnenFinale: vor dem zwischenzeitlichen Abgang „Stripped“, „Enjoy the Silence“und „Never Let Me Down Again“, zum Abschluss „I Feel You“und „Personal Jesus“. Da hat selbstverständlich längst die Befreiung von der Schwerkraft eingesetzt, ohrenbetäubend ist der Jubel.
Selbstverständlich? Ja, weil viele dieser Songs für viele der 60 000 im Wortsinn Hits sind, Treffer bezüglich eigener Lebenserfahrungen, mit den intimen Stimmungen verwachsen und trotzdem in Breite wirkend – Pop im besten Sinne. Und ja, weil in diesem so aufs Wesentliche reduzierten Auftritt auch die in ihrem Kern kenntlich bleiben: vor 35 Jahren, genau so, noch als halbe Bengel, gestartet, dann Pioniere, Stars, ja Legenden geworden, in Person von Dave Gahan fast daran zerbrochen, aber geblieben, weiter gewachsen, wiederkennbar und zugleich anders, mitunter noch besser geworden, live jedenfalls auch viel gelöster…
Aber nein, selbstverständlich ist das ja trotzdem nicht. Denn eigentlich ist das Spektakel für Millionen, das aus drei Kids da geworden ist, ja tatsächlich bizarr. Die sonst übliche Überwältigung überdeckt das nur. Hier aber darf sich noch zeigen, dass im Herzen des Spektakels eigentlich ein Wunder wohnt, das Musik heißt, das diese Herren immer wieder vollbracht haben – eine Erhabenheit, dem Allzumenschlichen abgerungen und dadurch darüber hinaus gewachsen, vor der bei Konzerten nicht nur der Fan staunend stehen kann. Das wird an diesem Freitag bloßgelegt, eigentlich durch erhebliche inszenatorische Schwächen. Die Riesen wirken ganz klein. Daraus entsteht freilich kein lupenreines Top-Spiel – aber dafür eines, das man nicht mehr vergisst.
So klein, wie sie wirken, so klein fing auch alles mal an