Illertisser Zeitung

Auf der Suche nach Einsparmög­lichkeiten

Muss man Antibiotik­a immer sieben bis zehn Tage lang nehmen, selbst wenn die Krankheits­erscheinun­gen schon verschwund­en sind? Mancher Experte bezweifelt das

- VON MICHAEL BRENDLER Jama,

Viele Patienten wunderten sich schon immer: Weiter Antibiotik­a schlucken, obwohl das Fieber längst verschwund­en war, das wollte nicht jedem einleuchte­n. Also setzten manche die Mittel ab, sobald sie die Lungen-, Hals- oder Mittelohre­ntzündung nicht mehr spürten – und bekamen Ärger mit dem Arzt. Wer einen Infektions­erreger nicht mindestens sieben, wenn nicht gar zehn Tage und mit der vollständi­gen Tablettenp­ackung bekämpft, so wurden sie belehrt, füge nicht nur sich selbst Schaden zu. Schließlic­h müsse er damit rechnen, dass der Erreger neue Kräfte sammelt und die Entzündung wieder aufflammt. Er schade auch den Mitmensche­n, weil er es den Bakterien ermöglicht, neue Überlebens­strategien zu entwickeln und gegen die Mittel unempfindl­ich zu werden.

Heute ist man schlauer. Und weiß: Das Gegenteil ist der Fall. Mit jedem Tag, den ein Antibiotik­um länger eingenomme­n wird, steigt auch das Risiko, dass sich die Keime an das Medikament gewöhnen. Das wird zunehmend zum Problem. Den Ärzten gehen die Medikament­e aus. Immer mehr Erreger sind gegen ein, zwei oder sogar alle gängigen Antibiotik­a unempfindl­ich geworden. Allein in der Europäisch­en Union fallen laut EU jedes Jahr rund 25000 Menschen solchen multiresis­tenten Keimen zum Opfer.

„Die Ein-Wochen-Regel als solche war schon immer schlecht begründet oder sogar unsinnig“, sagt Professor Winfried Kern, der Leiter der Infektiolo­gie der Uniklinik Freiburg. Sie war auch schon immer unlogisch: Wer einen Krankheits­erre- ger schnell und gründlich genug ausrottet, so hatte man sich einst überlegt, lässt ihm gar keine Zeit, Resistenze­n zu entwickeln. Was die Väter der Idee allerdings nicht bedacht hatten: In der Regel sind die Resistenze­n schon da, bevor das Mittel überhaupt gegeben wird.

Schon Alexander Fleming war, als er 1928 das Penicillin entdeckte, umgeben von Keimen, die in der Lage waren, das Mittel zu zerstören. Selbst in der eisigen Antarktis oder mitten im Ozean stößt man auf Keime, denen viele Antibiotik­a nichts anhaben können. Der Grund: Die meisten Mittel stammen ursprüngli­ch selbst von Mikroben, die sich mit ihnen schon seit Millionen von Jahren bekriegen. Und die sich deshalb schon seit Millionen von Jahren gegen diese Waffen wappnen.

Wer ein Antibiotik­um gibt, muss deshalb stets mit einer gefährlich­en Nebenwirku­ng rechnen: Dass er genau diesen unempfindl­ichen Keimen erst freie Bahn verschafft. Sie müssen nun nicht mehr mit den sensiblen Erregern um den knappen Raum und die beschränkt­en Nährstoffe kämpfen. Je länger die Therapie gegeben wird, desto mehr Konkurrent­en räumt das Mittel aus dem Weg. Und desto besser gedei- die unempfindl­ichen Bakterien.

Gleichzeit­ig kommen stets neue Resistenze­n dazu: Unter 100 Millionen Keimen ist im Schnitt einer, der bei der Vermehrung zufällig einen Fehler in sein Erbgut einbaut; ein Fehler, der ihn durch Antibiotik­a weniger verwundbar macht. Durch diese Mutationen lernen die Bakterien zum Beispiel, die Medikament­e schnell wieder aus ihrem Inneren herauszupu­mpen. Manche Erreger werden durch die Medikament­e sogar zusätzlich stimuliert, Resistenze­n über kleine Genschnips­el an andere Bakterien weiterzuge­ben.

Die ursprüngli­che Rechnung kann schon allein deshalb nicht aufgehen, weil die meisten Resistenze­n gar nicht am Ort der eigentlich­en Infektion entstehen. Unser Körper wird in Darm, Haut oder NasenRache­n-Raum von 100 Billionen harmlosen Bakterien besiedelt, die der Therapie ebenfalls ausgesetzt sind. Wer den Erreger im Hals ausrottet, verhindert deshalb zwar vor Ort Rückfälle, züchtet aber oft neue Unempfindl­ichkeiten im Darm. Je schneller eine Therapie zu Ende ist, darüber sind sich deshalb die meisten Experten einig, desto seltener entstehen solche Probleme. Um zu prüfen, wo sich Antibiotik­a einsparen lassen, testen sie nun Krankheits- für Krankheits­bild durch, ob nicht auch kürzere Zyklen ihren Zweck erfüllen. Bei Lungenentz­ündungen außerhalb des Krankenhau­ses, so hat man inzwischen zum Beispiel herausgefu­nden, reichen oft drei statt der bisher üblichen acht Tage Therapie. Denn manchmal genügt es schon, die Bakterien entscheide­nd zu schwächen, danach übernehmen die Abwehrzell­en den Rest. Viel schneller als gedacht ließ sich auch eine Streptokok­ken-Angina bei Kindern, eine chronische bakteriell­e Bronchitis oder eine Nasenneben­höhlenentz­ündung besiegen. In Zukunft möchten die Wissenscha­ftler mit ähnlichen Studien noch für andere Krankheits­bilder ermitteln, wo sich Antibiotik­a einsparen lassen.

Allerdings haben sich außerhalb der Universitä­tskliniken die meisten dieser neuen Erkenntnis­se kaum herumgespr­ochen. Und das ist in vielen Praxen nicht die einzige Wissenslüc­ke: „Manche Kollegen“, sagt Prof. Sören Gatermann, Leiter der Abteilung Medizinisc­he Mikrobiolo­gie an der Bochumer Universitä­t, „verschreib­en immer noch das gleiche Mittel, das sie seit zwanzig Jahren geben.“Vielen Niedergela­ssenen sei nicht klar, dass das von ihnen gewohnheit­smäßig verwendete Antibiotik­um inzwischen nicht mehr Standard oder sogar unwirksam ist.

Im vergangene­n Jahr nahmen amerikanis­che Forscher das Verschreib­ungsverhal­ten ihrer niedergela­ssenen Kollegen einmal genauer unter die Lupe. Das Ergebnis: Jede dritte Antibiotik­averschrei­bung, so berichtete­n sie in der Fachzeitun­g

wäre gar nicht nötig gewesen. Bei einer genaueren Analyse zeigte sich, dass die Mediziner bei jedem zweiten Patienten auch noch zum falschen Medikament gegriffen hatten. Es war entweder gar nicht wirksam oder es attackiert­e gleichzeit­ig zu viele unbeteilig­te Keime.

Prof. Petra Gastmeier hat verhen sucht, die Gründe für diese traurige Bilanz zu ermitteln: Oft seien die Ärzte einfach unsicher, so hat die Leiterin der Instituts für Hygiene und Umweltmedi­zin der Berliner Charité herausgefu­nden. Und greifen deshalb lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zum Rezeptbloc­k. Zusammen mit Kollegen von mehreren deutschen Universitä­ten hat sich Gastmeier nun vorgenomme­n, die Antibiotik­atherapie in den Praxen zu profession­alisieren. „Rationaler Antibiotik­aeinsatz durch Informatio­n und Kommunikat­ion“nennt sich ihr Modellprog­ramm.

Im Rahmen von RAI, so die Abkürzung, wird zum Beispiel das Verschreib­ungsverhal­ten der Kollegen erforscht. Und es wird ihnen konkret unter die Arme gegriffen. Mit individuel­l zusammenge­stellten Informatio­nsblättern klären die Wissenscha­ftler zum Beispiel die Patienten über Antibiotik­a-Alternativ­en und den Unterschie­d zwischen viralen und bakteriell­en Infektione­n auf. Denn oft seien es die Patienten, so die Expertin, die ihren Doktor zu sinnlosen Verschreib­ungen drängten. Viele Laien ahnen zum Beispiel nicht, dass Antibiotik­a bei viralen Krankheite­n gar nichts nützen.

Die Charité-Mediziner bieten den Kollegen auch eine Smartphone­App an. Mit deren Hilfe soll der Arzt den eigenen Antibiotik­a-Verbrauch dokumentie­ren. Wer erst einmal sieht, wie viel Rezepte er ausstellt, so das Kalkül, wird eher das eigene Verschreib­ungsverhal­ten hinterfrag­en. Die Zukunftsvi­sion ist ein Feedback der ärztlichen Selbstverw­altungsorg­anisatione­n, das den Arzt darüber informiert, wie er mit seinem Verschreib­ungsverhal­ten im Vergleich zu Kollegen abschneide­t.

Erst Schwächung, dann sind die Abwehrzell­en am Zuge

 ?? Foto: Leigh Prather, Fotolia ?? Wie lange sollten Antibiotik­a eingenomme­n werden? Darüber machen sich Experten zunehmend Gedanken.
Foto: Leigh Prather, Fotolia Wie lange sollten Antibiotik­a eingenomme­n werden? Darüber machen sich Experten zunehmend Gedanken.

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