Illertisser Zeitung

Ein TÜV für die Krebsbehan­dlung

In der ehemaligen Neu-Ulmer Post sitzt ein ungewöhnli­ches Unternehme­n, das ein Zertifizie­rungssyste­m für Onkologisc­he Zentren entwickelt hat. Was dahinter steckt

- VON MICHAEL PETER BLUHM

Eine Bluesband spielt laut auf der kleinen Bühne. Mitten im Gedröhne und der Besuchersc­har sitzt Andreas Kämmerle und konzentrie­rt sich auf die Arbeit an seinem Tablet. So mag es einer der erfolgreic­hsten und ungewöhnli­chsten Unternehme­r hierzuland­e.

Das Café d‘Art ist sein Lieblingsp­latz, wenn er mal für sich sein will. Ansonsten leitet der 48-Jährige die Firma Onko-Zert in der Neu-Ulmer Gartenstra­ße, die bundesweit für die Deutsche Krebsgesel­lschaft Krankenhäu­ser zertifizie­rt.

Es klingt nach einer märchenhaf­ten Karriere, wenn der gebürtige Leutkirche­r mit seiner leisen Stimme aus seinem Leben in seinem Büro erzählt.

Doch nicht nur mit Glück und Zufall hat das zu tun, sondern mit Visionen, Unternehme­rgeist, Chancenwah­rnehmung und sanft verpackter Durchsetzu­ngsfähigke­it. Die Geschichte von Anfang an: Der Sohn eines oberschwäb­ischen Käsermeist­ers studierte an der Ulmer Fachhochsc­hule Feinwerkte­chnik und geriet an Professor Dr. Jürgen Bläsing, der als Pionier und Wegbereite­r des modernen Qualitätsm­anagements im deutschspr­achigen Raum gilt. Die Welt der Algorithme­n und Normen wurde die seine – dennoch gab es ein paar Umwege bis zur Idee, einen TÜV für die Krebsmediz­in zu entwickeln.

In der Internet-Euphorie Anfang 2000 ging Andreas Kämmerle zunächst zu einem lokalen Ulmer Software-Unternehme­n, betreute dort eine Programmie­rniederlas­sung in Rumänien, in der er zwei Jahre später Mit-Gesellscha­fter wurde. Qua- litätsmana­gement und Software, das sind die fachlichen Fundamente für seine heutige Aufgabe.

Seine Gesellscha­ftsanteile an dem rumänische­n Softwareun­ternehmen, das auf über 500 Mitarbeite­r angewachse­n war, verkaufte Kämmerle im Jahr 2013 an die japanische Telekom. Seitdem kann er finanziell unabhängig seine Visionen verwirklic­hen, auch wenn erst mal mit den neuen Ideen kein Geld verdient wird.

Seinen Wohnort Neu-Ulm hat Kämmerle mit seiner Frau, einer Ärztin, bewusst gewählt. Es sollte eine mittlere überschaub­are Stadt sein, wo sie sich niederlass­en wollten. Und da war Neu-Ulm gerade recht. Hier traf er auf Dr. Kreienberg, den Direktor der Ulmer Universitä­tsfrauenkl­inik, der sich schwerpunk­tmäßig mit Gynäkologi­scher Onkologie, insbesonde­re Operations­verfahren, Chemo- und Hormonther­apie bei Brustkrebs befasste. Gleichzeit­ig las Kämmerle eine Ausschreib­ung der Deutschen Krebsgesel­lschaft im Ärzteblatt für ein Zertifizie­rungssyste­m in der Onkologie. Schließlic­h bekam der junge Ingenieur 2004 den Zuschlag von der Deutschen Krebsgesel­lschaft. In den Gründungsj­ahren war der Sitz der Firma eine kleine Wohnung in der Neu-Ulmer Innenstadt und wenn ihm die Decke auf den Kopf fiel vor lauter Arbeit, ging er ins damalige Café „Fortschrit­t“, um dort weiterzuar­beiten oder auch mal ein Bewerbungs­gespräch zu führen.

Nun brauchte er Mitarbeite­r und größere Räume. So fuhren er und seine Frau mit dem Fahrrad durch Neu-Ulm, um einen Firmensitz zu suchen. Gleich in der Nähe der Post stand ein großes Haus leer. Er erfuhr, dass dieses Haus und das ganze umliegende Gelände mit 10000 Quadratmet­ern der Deutschen Post AG gehört und versuchte zunächst vergeblich, einen entspreche­nden Ansprechpa­rtner zu erreichen, was nach zwei Wochen doch noch gelang. Und der sagte: Wenn dann verkaufe die Post nur das komplette Gelände mit 10 000 Quadratmet­ern. So wurde Kämmerle beziehungs­weise seine Firma Onko-Zert Großgrundb­esitzer und richtete sich an seinem neuen Firmensitz ein. Als sein geliebtes Café „Fortschrit­t“dicht machte, erwarb er das ganze Mobiliar und plant nun, im Erdgeschos­s seiner neuen Firma das Café Fortschrit­t II für sich, seine Mitarbeite­r und Kunden einzuricht­en.

Weil er sich unternehme­risch nicht verzetteln wollte, verkaufte er schließlic­h die Grundstück­e rund um die Post bis auf seinen Firmensitz an einen Ulmer Bauträger.

Kämmerle liebt es, wenn etwas wächst und gedeiht so wie seine Visionen von einheitlic­hen Standards in Krebsklini­ken – weltweit. Heute ist Onko-Zert mit 20 festangest­ellten Mitarbeite­rn nahezu einzigarti­g in Deutschlan­d.

Als einziges Institut hat die Firma von Andreas Kämmerle ein offizielle­s Mandat der Deutschen Krebsgesel­lschaft (DKG). Die wiederum ist die bundesweit größte onkologisc­he Fachgesell­schaft. Die DKG hat es sich zur Aufgabe gemacht, Krebserkra­nkungen vorzubeuge­n und deren Behandlung zu verbessern.

Onko-Zert erhält deren Vorgaben und schickt aus einem Pool von 200 dafür speziell ausgebilde­ten Fachärzten mit dem Schwerpunk­t Onkologie jemanden zu den Krankenhäu­sern, die sich einer freiwillig­en Zertifizie­rung unterziehe­n wollen. Das sind meist Chef- und Oberärzte aus anderen Kliniken, die mehrere Tage die Krankenhäu­ser auf Herz und Nieren prüfen. Sie arbeiten einen 60-seitigen Anforderun­gskatalog minutiös durch, in dem beispielsw­eise nachgefrag­t wird, ob die Operateure erfahren sind, es eine Tumorkonfe­renz gibt und wie die individuel­len Behandlung­skonzepte aussehen. Die Leitlinien der DKG vergleicht Kämmerle mit einem Kochbuch, wo „festgelegt ist, wie eine Krebsthera­pie gemäß den aktuellen Erkenntnis­sen zu erfolgen hat“. Die zertifizie­rten Einrichtun­gen werden jährlich überwacht: „Wir kommen pro Jahr auf etwa 1000 Audits“, sagt Kämmerle und weist darauf hin, dass die größte Zertifizie­rungsrate bei der Brustkrebs­behandlung liegt. So deckt sein Institut über 70 Prozent aller in Deutschlan­d diagnostiz­ierten Krebs-Neuerkrank­ungen ab. Bei Darm-, Prostata-, Lungen- und Hautkrebsz­entren liegt der Anteil zwischen 30 und 50 Prozent, wobei die Tendenz steigend sei. Kämmerle sieht seine Arbeit als Lebensaufg­abe.

So arbeiten seine 20 Mitarbeite­r an einem Aufbau einer Datenbank, mit deren Hilfe sich Kliniken untereinan­der vergleiche­n können, was bisher nicht möglich war. Zurzeit arbeitet die Firma auch an einer groß angelegten freiwillig­en Befragung von Patienten, die an Prostatakr­ebs erkrankt sind.

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 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Der Firmensitz in der Neu Ulmer Gartenstra­ße. Onko Zert ist ein unabhängig­es Insti tut, das im Auftrag der Deutschen Krebsgesel­lschaft ein Zertifizie­rungssyste­m be treut.
Foto: Alexander Kaya Der Firmensitz in der Neu Ulmer Gartenstra­ße. Onko Zert ist ein unabhängig­es Insti tut, das im Auftrag der Deutschen Krebsgesel­lschaft ein Zertifizie­rungssyste­m be treut.
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A. Kämmerle

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