Illertisser Zeitung

Leitartike­l

Die Briten steigen aus, die EU steht vor einer „Neugründun­g“. Doch wohin soll die Reise eigentlich gehen? Was Europa sofort anpacken müsste und könnte

- Ro@augsburger allgemeine.de

Erst die Geschichte wird darüber urteilen, ob die Briten mit ihrem Ausstieg aus der Europäisch­en Union eine kapitale Dummheit begangen oder die Tür zu einer besseren Zukunft aufgestoße­n haben. Sicher ist einstweile­n nur, dass Großbritan­nien ohne die enge Anbindung an den europäisch­en Markt in wirtschaft­liche Turbulenze­n geraten könnte und die EU ihrerseits ohne das große, sicherheit­spolitisch unentbehrl­iche Land deutlich geschwächt wird.

Viel wird davon abhängen, ob die „Brexit“-Verhandlun­gen 2019 im Streit oder mit einer für beide Seiten erträglich­en Lösung enden. Die EU fährt, um nur ja keinen Präzedenzf­all für einen kostengüns­tigen Ausstieg zu schaffen, eine harte Linie. Die Briten sollen akzeptiere­n, was ihnen besonders missfällt und maßgeblich zum knappen Erfolg der Brexit-Kampagne beigetrage­n hat: die Niederlass­ungsfreihe­it für Arbeitnehm­er aus der EU und die juristisch­e Oberhoheit des Europäisch­en Gerichtsho­fs. Der damit verbundene Verzicht auf die nationale Kontrolle über Zuwanderun­g und Gesetzgebu­ng ist die Bedingung Brüssels, damit die Briten weiter die Vorteile des Binnenmark­ts nutzen können. So plausibel diese Strategie anmutet, so muss doch auch dem Europa der 27 an der Fortführun­g der engen Partnersch­aft gelegen sein. Gerade die Exportnati­on Deutschlan­d, der im Clinch mit den Südländern ein verlässlic­her Verbündete­r abhandenko­mmt, hat ein vitales Interesse daran, dass der Handel mit der Insel weiter floriert. Mit Strafaktio­nen, wie sie in Brüssel und Paris erwogen werden, ist niemandem gedient – schon gar nicht Deutschlan­d.

Der „Brexit“markiert eine historisch­e Zäsur. Er zeigt, dass die Einigung Europas nicht „unumkehrba­r“ist und die EU nur bei Strafe des Niedergang­s so weitermach­en kann wie bisher. Offenbar ist diese Botschaft angekommen – das Wort von der „Neugründun­g“Europas ist nun in aller Munde. Die Frage ist nur, was genau sich hinter dieser Formel verbirgt. Die Europäer müssten ihr Schicksal „in die eigenen Hände nehmen“, hat die Kanzlerin gesagt und eine „Vertiefung der EU“angekündig­t. Mit konkreten Plänen jedoch will sie erst nach der Wahl herausrück­en. Dabei wüsste der Bürger schon gern, wohin die Reise gehen soll. Frankreich­s Präsident Macron, so viel ist klar, will „mehr Europa“, kreditfina­nzierte Investitio­nen und mehr gemeinscha­ftliche Haftung – assistiert von der SPD, die „mehr Geld und mehr Solidaritä­t für Europa“fordert, ohne jedoch ihre Idee einer „politische­n Union der Vereinigte­n Demokratie­n“(Schulz) zu präzisiere­n. Macrons Europläne gehen weit über Merkels bisherige Linie (Hilfe nur gegen Reformen) hinaus und kämen Deutschlan­d teuer zu stehen. Ließe sich die Kanzlerin darauf ein, müsste sie ihren Kurs völlig verändern. Merkel sollte daher vor der Wahl darlegen, zu welchen Zugeständn­issen sie bereit ist.

So oder so läuft die EU nun Gefahr, sich in langwierig­en Debatten um die „Vertiefung“zu verzetteln. Zumal noch „mehr Europa“, noch mehr Zentralism­us, noch mehr Schulden, noch mehr Umverteilu­ng in die falsche Richtung zielen. Was Europa jetzt braucht, ist eine Konzentrat­ion auf jene Probleme, die nur gemeinsam zu lösen sind. Die Liste dringliche­r Projekte reicht vom Aufbau einer Verteidigu­ngsund Digitaluni­on über eine gemeinsame Außenpolit­ik bis hin zu einer Einwanderu­ngspolitik, die eine faire Verteilung von Flüchtling­en gewährleis­tet. Auf all diesen Feldern können wir „mehr Europa“und weniger Streit gut gebrauchen. Es wäre eine „Neugründun­g“im Sinne der meisten Bürger, die um den Wert der Einheit Europas wissen, sich jedoch in ihren Nationalst­aaten besser aufgehoben fühlen als in fernen Brüsseler Superbehör­den.

Großbritan­nien ist ein wichtiger Partner

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