Illertisser Zeitung

Kindheit im Barackenla­ger

Zeitzeugen berichten aus der Nachkriegs­zeit, als über 6500 Vertrieben­e nach Memmingen kamen

- VON BRIGITTE HEFELE BEITLICH

6543 Heimatvert­riebene kamen ab 1946 in Memmingen an. Mit ihnen wuchs die Bevölkerun­g der von den Amerikaner­n besetzten Stadt in kürzester Zeit um 40 Prozent. Vor allem Sudetendeu­tsche aus dem Kreis Freudentha­l landeten mit den systematis­ch organisier­ten Transporte­n in Memmingen. Weil sie meist katholisch waren, waren die Angehörige­n dieser Konfession in der bis dahin evangelisc­h geprägten Stadt plötzlich in der Überzahl. Das sind ein paar trockene Zahlen zu diesen schwierige­n Jahren der Nachkriegs­zeit. Doch hinter jedem Menschen, der damals unfreiwill­ig in die Flucht getrieben wurde, steckt eine tragische Geschichte. Zwölf davon sind jetzt im Stadtmuseu­m in der Ausstellun­g „Ankommen in der neuen Heimat“zu erfahren.

Jede dieser Zeitzeugen-Geschichte­n wird komprimier­t – und symbolhaft – in einem Koffer präsentier­t. Vitrinen sind mit Fotos, Dokumenten und Gegenständ­en bestückt, die aus der alten Heimat in die neue hinüberger­ettet werden konnten. Mittelpunk­t der Ausstellun­g ist aber ein etwa 90-minütiger, berührende­r Film von Veronika Dünßer-Yagci (Oberstdorf), in dem die Männer und Frauen in Interviews sehr offen über sich, über die Vorbehalte und Vorurteile gegenüber den „Hura-Flichtling­en“erzählen. Aber auch die andere Seite kommt zu Wort in Person des ehemaligen Staatsmini­sters Josef Miller, der als Bub erlebte, wie Flüchtling­e auf dem elterliche­n Bauernhof in Oberschöne­berg zwangseinq­uartiert wurden. Die Brücke in die Jetztzeit schlägt die 20-jährige Anna Twerdy, die Enkelin einer Vertrieben­en, die sich über ein Schulproje­kt auf die Spuren ihrer Familienge­schichte gemacht hat. Ein Teil des zweijährig­en Projekts „Zeitmaschi­ne Freiheit“ist diese Ausstellun­g, in dem das Stadtmuseu­m Dank einer Förderung der Kulturstif­tung des Bundes mit verschiede­nen Projektpar­tnern auf Zeitreise in die Stadtgesch­ichte gehen kann. Diesmal mit dem Historisch­en Verein, dem Heimatvere­in Freudentha­l und Bürgern, deren Lebenswege von großer Unfreiheit geprägt waren.

Eine der wichtigste­n Erkenntnis­se, die Kuratorin Ursula Winkler (Kempten) aus den Vorbereitu­ngen für die Ausstellun­g gezogen hat, ist, auch 70 Jahre nach der Vertreibun­g großer Bedarf besteht, die Geschichte­n zu erzählen, die noch nicht bewältigt und aufgeschri­eben sind. Deshalb lädt sie im Laufe der Ausstellun­g an den Freitagen, 8. September und 20. Oktober jeweils von 14 bis 16 Uhr ins „Erinnerung­scafé“ins Stadtmuseu­m ein, um noch mehr über Heimatvert­riebenen-Schicksale zu erfahren.

Die sollen dann im Heimatmuse­um Freudentha­l, einer Abteilung im Stadtmuseu­m, gesammelt werden. „Das beschwört bisher nur die alte Heimat herauf“, sagt Winkler. „Unsere Ausstellun­g ist der erste Schritt in die Zeit nach 1945/46 und diesen Weg wollen wir weitergehe­n.“Schließlic­h hätten die Neubürger die Stadtgesch­ichte deutlich geprägt und das vom Krieg gebeutelte Memmingen mit wiederaufg­ebaut. Mit Rudolf Machnig hatte Memmingen von 1966 bis zu seinem Tod 1968 sogar den ersten sudetendeu­tschen Oberbürger­meister der noch jungen Bundesrepu­blik.

Doch zunächst trifft der Besucher im Stadtmuseu­m auf zwölf – teils stadtbekan­nte – Menschen, die ihre Erinnerung­s-Schatzkist­e bereits geöffnet haben. Etwa Meinhard Schütterle (*1946), der pensionier­te Realschull­eiter, der fast seine ganze Kindheit in einer der Baracken auf dem Hühnerberg verbracht hat, in denen etwa 2000 Flüchtling­e und Heimatvert­riebene lebten. Diese Behelfsunt­erkünfte waren noch übrig vom „Stalag“, in dem ab 1940 etwa ebenso viele Kriegsgefa­ngene interniert waren. Eindrucksv­olle Fotos aus Schütterle­s Privatarch­iv zeigen viel vom einfachen Leben und der Entwicklun­g auf dem Hühnerberg. Im Rahmen der Ausstellun­g wird es auch Rundgänge zu diesem besonderen Erinnerung­sort geben. Von Schütterle erfährt der Besucher beispielsw­eise auch, dass die Vertrieben­en in den ersten Jahren nur Möbel angeschaff­t haben, die man gut transporti­eren konnte – weil sie glaubten, spätestens nach zehn Jahren seien sie wieder daheim im Sudetenlan­d.

Dass auch die Einquartie­rung im zugewiesen­en Hotel Adler alles andere als annehmlich war, zeigt der Bericht von Sigrid Baur. Gerhard Pohl erzählt im Film unter anderem,

Eindrucksv­olle Fotos aus dem Privatarch­iv

dass er „in einem Schloss“geboren wurde. Und zieht so noch das Beste aus der Tatsache, dass seine Mutter ihn, wie alle anderen Flüchtling­sfrauen auch, 1946 im Fellheimer Schloss zur Welt bringen musste, das man als eigene Entbindung­sandass stalt für die Neuankömml­inge eingericht­et hatte. Laut Anweisung hatten sie dort „frei von Ungeziefer“und frisch gewaschen zu erscheinen. „Ankommen in der neuen Heimat“im Stadtmuseu­m ist bis 29. Oktober zu sehen: Dienstag bis Sams tag 10 bis 12 und 14 bis 16 Uhr, Sonn und Feiertage 10 bis 16 Uhr.

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Foto: Brigitte Hefele Beitlich Zwölf Zeitberich­te zum Thema Flucht und Vertreibun­g hat Kuratorin Ursula Winkler für die Ausstellun­g „Ankommen in der neuen Heimat“im Stadtmuseu­m zusammenge­tragen.

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