Illertisser Zeitung

Der fremde Ort wurde zur Heimat

In unserer neuen Serie stellen wir Menschen vor, die aus dem Ausland in die Region gezogen sind – und ihre Schicksale und Leidensweg­e. Heute: Robert Ball aus Jedesheim

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Mit einem Umzug über Staatsgren­zen hinweg beginnt oft ein völlig neues Leben: Die Gründe, die Heimat zu verlassen, sind vielfältig, der Schritt ist meist gut überlegt. Doch es fällt schwer, das Gewohnte hinter sich zu lassen und in eine ungewisse Zukunft zu gehen. In unserer neuen Serie „Angekommen“stellen wir Menschen vor, die es trotzdem gewagt haben – und die in der Region eine neue Heimat gefunden haben. Hier geht es um ihre Geschichte­n, ihre Schicksale und Leidensweg­e.

Ob die Kinder einen Engländer, ganz klassisch mit Schirm und Melone erwartet hatten? Robert Ball aus Jedesheim lacht, wenn er sich an seinen ersten Spaziergan­g durch den Ort erinnert. Kinder waren ihm damals interessie­rt gefolgt. Denn die Nachricht, dass Engländer nach Jedesheim ziehen wollen, war Robert Ball und seiner Frau Janet vorausgeei­lt und hatte wohl neugierig auf die Neuankömml­inge gemacht. Dieser erste Erkundungs­gang durch Jedesheim liegt 38 Jahre zurück. Der damals fremde Ort wurde für sie zur Heimat.

Im Jahr 1979 zogen die Balls nach Jedesheim. Doch bereits neun Jahre zuvor, also 1970, war Robert Ball nach Deutschlan­d gekommen. Geboren wurde er 1947 in Shrewsbury, nahe der Grenze zu Wales. Zehn Jahre seiner Kindheit verbrachte er dort. Dann zogen seine Eltern mehrfach um, zuletzt wohnten sie in In dieser Zeit studierte er bereits in London Chemie. Nach seinem Abschluss wollte er dann nicht gleich arbeiten. „Ich wollte was von Europa sehen“, erzählt er. Es zog ihn nach Deutschlan­d. Das sei für die damalige Zeit etwas Ungewöhnli­ches gewesen, erinnert sich Ball. Beinahe eine „Pionierlei­stung“, fügt er lachend hinzu. Dies nicht nur deshalb, weil es den Tourismus wie heute noch nicht gab und das Reisen sehr teuer war. Auch das Thema „Zweiter Weltkrieg“war noch in den Köpfen der Menschen präsent. So hatten seine Eltern wohl große Bedenken. Doch Vater und Mutter sorgten sich umsonst. „Ich bin in Deutschlan­d freundlich aufgenomme­n worden und hatte keine Probleme“, erzählt er.

Sein Weg führte ihn nach Ingelheim am Rhein, wo der Chemiker bei dem Pharmaunte­rnehmen Boehringer Ingelheim ein Jahr lang arbeitete. Wie der Zufall es wollte, lernte er in Ingelheim seine spätere Frau Janet kennen, eine Engländeri­n, die ebenfalls aus Manchester stammte. 1972 fand er eine Anstellung bei der Illertisse­r Firma Mack. In dieser Zeit wohnte er zunächst unter anderem auch in Senden mit Ulmer Medizinstu­denten in einer Wohngemein­schaft zusammen. Der enge Kontakt mit den anderen jungen Leuten habe ihn auch sprachlich vorangebra­cht. „Ich dachte damals, ich kann Deutsch“, erzählt er verschmitz­t.

In Jedesheim wurde er dann eines Besseren belehrt. Dort sprach man wohl ein so breites Schwäbisch, dass er “nochmals Deutsch lernen musste“. Ball, dem man seine englische Herkunft heute fast nicht mehr anManchest­er. hört, trat bald nach seiner Ankunft in den Jedesheime­r Sportverei­n und später in den Gesangvere­in ein. Letzteren leitete er fünf Jahre als Vorsitzend­er. Zudem war er als Stadtrat tätig. Heute engagiert er sich ehrenamtli­ch für die Illertisse­r Tafel und im Helferkrei­s für Asylsuchen­de. Ball fährt leidenscha­ftlich gerne Fahrrad, ist Vorstandsm­itglied im Kreisverba­nd des Allgemeine­n Deutschen Fahrradklu­bs und war auch beim Illertisse­r Stadtradel­n mit von der Partie. „Früher bin ich jeden Tag mit dem Rad zur Arbeit gefahren“, erzählt er. Heute gehören für ihn Unternehmu­ngen mit dem Drahtesel, teilweise auch mit weiter entfernten Zielen, nach wie vor zum Alltag.

Auch das Vorhaben, dass er einst als 23-Jähriger – wenn auch ohne Rad und auch ohne Schirm und Melone – begonnen hat, nahm einen glückliche­n Verlauf: „Ich fühle mich in Jedesheim zu Hause und bin hier schon sehr lange angekommen“, sagt er. Denn hier habe er Arbeit gefunden, könne seinen Hobbys nachgehen und seine Freizeit sinnvoll gestalten. Doch Ball gibt auch zu, dass dieses Gefühl des Zu-Hause-Seins einem Prozess unterworfe­n war. Auf die Frage nach seiner Herkunft etwa, habe er zu Anfang geantworte­t: „Ich bin Engländer.“Später dann: „Ich komme aus England“und „Ich bin in England geboren“bis hin zu „Ich bin Deutscher“.

Letzteres ist nun auch amtlich: Nachdem der Brexit feststand – eine Entscheidu­ng, die Ball nicht nachvollzi­ehen kann – haben die Balls die deutsche Staatsbürg­erschaft beantragt und auch erhalten.

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Foto: Zita Schmid Der gebürtige Engländer Robert Ball kam vor 38 Jahren nach Jedesheim. Heute ist für ihn der damals fremde Ort zur Heimat geworden.
 ?? Foto: Schmid ?? Mit der Musikkapel­le Vorderburg waren Pioniere des Blasmusika­ntentreffe­ns in Altenstadt zu Gast.
Foto: Schmid Mit der Musikkapel­le Vorderburg waren Pioniere des Blasmusika­ntentreffe­ns in Altenstadt zu Gast.

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