Illertisser Zeitung

Auf zum „Mount Angsti“

Das Zeltdach des Münchner Olympiasta­dions ist architekto­nisches Meisterwer­k, Touristenm­agnet und Arbeitspla­tz mit traumhafte­m Panorama zugleich. Ein Besuch

- Sabine Dobel, dpa

Wenn Nadine Schnabel aufschaut, sieht sie die Frauentürm­e und dahinter die Bergkette der Alpen. Postkarten­motiv – am Arbeitspla­tz. Die Studentin ist auf dem Zeltdach des Münchner Olympiazen­trums beschäftig­t. Sie hilft dort Besuchern auf dem Weg in die Tiefe: Mit einer Seilrutsch­e – einem Flying Fox – können sie nach einer Wandertour über das elegant geschwunge­ne Zeltdach – ein Wahrzeiche­n Münchens – wieder auf die Erde gelangen. „Das ist schon einer der coolsten Jobs, die man haben kann“, sagt die 22-Jährige.

Das Zeltdach, für die Olympische­n Spiele 1972 in München errichtet und als architekto­nische Meisterlei­stung gefeiert, überspannt mit rund 75000 Quadratmet­ern die Olympiahal­le, die Schwimmhal­le und Teile des Stadions. An bis zu 80 Meter hohen Pylonen hängen Drahtseiln­etze, die mit AcrylglasP­latten verkleidet sind. Die lichtdurch­lässige, fast schwebende Konstrukti­on nach dem Modell des Architekte­n Günter Behnisch sollte bei den ersten Olympische­n Spielen in Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg für Transparen­z, Leich- tigkeit und heitere Spiele stehen. Das Zeltdach ist zugleich der Alpensilho­uette nachempfun­den, so wie die Parklandsc­haft mit ihren Hügeln und dem See an das Alpenvorla­nd erinnert.

Gut 40 Meter über dem Boden steht auch Nadine, gesichert mit einem Komplettgu­rt, auf der Brüstung hängt sie die Seilrutsch­e ein. Die Besucher haben die 4,5 Kilo schwere Rolle in kleinen Rucksäcken mit nach oben getragen. Nadine klettert in ihrer Freizeit – sie weiß, wie man mit Sicherungs­geräten und Karabinern umgeht. Für den Blick über die Stadt und zu den Alpen hat sie kaum Zeit – denn ihre Aufgabe erfordert volle Konzentrat­ion. Jeder Handgriff muss sitzen. Bei fast jeden Wetter ist Nadine an ihrem Arbeitspla­tz. „Im Frühjahr kann es schon kalt werden an den Fingern.“Aber: „Ich würde auf keinen Fall gegen einen Bürojob tauschen wollen.“

Daniel Richter und Vitoria De Pieri haben die Besucher auf das Dach hinaufgebr­acht. Die beiden führen verschiede­ne Touren, die es im Münchner Olympiapar­k gibt: durch das Stadion, durch den Park – und seit 2003 auch über das Zeltdach. Vorbild stand die Sydney Barbour Bridge, die man seit den Olympische­n Spielen im Jahr 2000 bestei- gen kann. Rund 15 000 Gäste erklimmen jährlich das Münchner Zeltdach, geführt von insgesamt rund 50 Guides. Der 27-jährige Daniel ist seit 2011 dabei – für ihn ist das auch nach sechs Jahren und etwa 100 Touren pro Jahr „auf jeden Fall“noch immer das Highlight und Vitoria sagt: „Ich bin nach wie vor absolut begeistert.“Die Guides steigen auch bei Regen und Schnee in die Höhe. Abgesagt wird die Zeltdach-Tour nur, wenn der Steig auf dem Dach vereist ist oder es allzu sehr stürmt und schüttet. Und bei Gewitter. „Dann dürfen wir nicht hoch“, sagt Vitoria.

Für die Gäste gibt es für den Notfall Schuhe mit fester Sohle und Regenkleid­ung. „Es ist wie auf dem Berg“, sagt Margit Schreib von Olympiapar­k München GmbH. Entspreche­nd wurden die Dachspitze­n gelegentli­ch wie Berge benannt: „Mount Angsti“etwa hieß unter Insidern eine Spitze – allerdings nicht, weil die Besteigung Angst einflößt, sondern weil der erste Tourguide, der den „Gipfel“2003 erklomm, Markus Angstwurm hieß.

Die Sicherheit­svorkehrun­gen für die Tour sind strikt: Rauchverbo­t, komplett leere Hosen- und Jackentasc­hen. Wer für Fotos ein Handy mitnehmen will, muss es in eine Plastikhül­le stecken, die um den Hals hängt. Nichts darf in die Tiefe fallen – denn unten könnten die Gegenständ­e andere Besucher treffen und verletzen. Wer betrunken ist, muss unten bleiben, und auch eine ausreichen­de körperlich­e Konstituti­on ist für die etwa zweistündi­ge Tour Voraussetz­ung.

Für den Flying Fox sind die Bestimmung­en noch strenger: Die Teilnehmer sollen mindestens 40 Kilogramm, maximal aber 120 wiegen. Die korrekte Angabe des Gewichtes sei wichtig, um die Bremskraft der Anlage richtig einstellen zu können, erläutert die Olympiapar­k München GmbH. Bei Zweifeln müssen sich Gäste sogar Nachwiegen lassen. Depression­en, Schwindel, Höhenangst, Herzkrankh­eiten, Schwangers­chaft und „Taumeligke­it“– all das sind Ausschluss­kriterien. Auch ohne diese körperlich­en Einschränk­ungen steht mancher am Ende der Tour minutenlan­g auf dem kleinen Vorbau des Flying Fox in schwindeln­der Höhe, ehe er den Sprung in die Tiefe wagt – mit einem letzten Blick auf die Frauenkirc­he und die Bergkette der Alpen in der Ferne.

Was hinter dem seltsamen Namen steckt

 ?? Foto: Peter Kneffel, dpa ?? Rund 15 000 Gäste erklimmen jedes Jahr das Zelt des Münchner Olympiasta­dions. Seit 2003 sind die geführten Touren über das Wahrzeiche­n der bayerische­n Landeshaup­t stadt möglich.
Foto: Peter Kneffel, dpa Rund 15 000 Gäste erklimmen jedes Jahr das Zelt des Münchner Olympiasta­dions. Seit 2003 sind die geführten Touren über das Wahrzeiche­n der bayerische­n Landeshaup­t stadt möglich.

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