Wenn Schmerz das Leben bestimmt
Yvonne F. versuchte dreimal, sich umzubringen. Heute ist die 40-Jährige selbst verblüfft, dass sie noch lebt. Die Geschichte einer Krankheit
Wie ein Straßenrennen im Ferrari. So beschreibt Yvonne F. aus Neu-Ulm ihr Leben. Nur lässt sich ihr Sportwagen einzig und allein mit dem Lenkrad eines Bobbycars steuern. Eine falsche Bewegung und ihr Leben gerät aus der Bahn. Dreimal war das bei F. der Fall – dreimal hat sie versucht, sich umzubringen. Heute ist die dreifache Mutter 40 Jahre alt – und noch immer am Leben. „Für mich ist es selbst sehr verblüffend, dass ich so lange überlebt habe“, sagt F., die heute ganz offen über ihre bewegte Vergangenheit sprechen kann. Denn mittlerweile weiß die 40-Jährige, warum sie anders ist als andere: Sie leidet an der Persönlichkeitsstörung Borderline, die täglich eine Achterbahnfahrt an Emotionen verursacht. F. weiß erst seit Kurzem, mit der Krankheit umzugehen – bis dahin war es ein steiniger, schmerzhafter Weg.
Der begann in ihrer Kindheit. Während andere nach dem ersten Schultag freudig von ihren Liebsten empfangen wurden, erwarteten das kleine Mädchen damals alkoholkranke Eltern. Liebe und Zuneigung? Fehlanzeige. F. wurde geschlagen, missbraucht und im Keller eingesperrt. Und dann haben sich ihre Eltern getrennt – für das junge Mädchen damals ein Schock und ein einschneidendes Ereignis, das ihre Zukunft für immer verändern sollte. F. fiel in ein tiefes Loch aus Einsamkeit, innerer Leere, Panikattacken, starken Stimmungsschwankungen, Verlustängsten und dem Drang, sich selbst zu verletzen. Das gipfelte in einem Selbstmordversuch mit 18 Jahren. „Ich habe Tabletten genommen – so viele, dass ich bewusstlos wurde“, sagt F., die später mit ausgepumptem Magen in der Notauf- aufwachte. Was danach folgte, war eine Odyssee an Therapien, die nichts brachten. „Man hat mich unter ,depressive Episode‘ eingestuft, ich war zehn Wochen in psychiatrischer Betreuung und danach ging alles so weiter“, sagt die NeuUlmerin. So wirklich auf den Grund gegangen sei dieser „depressiven Episode“niemand. „Ich war ein komisches Mädchen, das dann auch noch in der Pubertät steckte“– dass jedoch die genetische Veranlagung zum Borderline dahintersteckte, die durch die Schicksalsschläge in der Kindheit noch verstärkt wurde, darauf sei zunächst niemand gekommen.
Auch nicht ein Jahr nach ihrem ersten Suizidversuch: Mit 19 wollte sie sich erneut das Leben nehmen. Wieder waren es Tabletten. Wieder scheiterte die junge Frau. Doch diesmal hing ihr Leben am seidenen Faden: Die Atmung hatte bereits ausgesetzt, drei Tage lang lag F. im Koma. Und schaffte es wieder zurück. Wieder folgten Therapien, ehe ihr mit 20 Jahren offenbart wurde, dass sie an Borderline leidet. Heute beschreibt F. die psychische Störung so: „Es ist wie eine Achterbahnfahrt ohne Ende, eine Fahrt mit dem Free-Fall-Tower, Borderliner suchen den Schmerz, die Grenze. Sie sehen nur gut und schlecht – dazwischen gibt es nichts.“Die Selbstmordgedanken kämen plötzlich – nicht wie bei Depressiven, die ihren Suizid lange vorausplanten, sagt F.
Geheilt oder richtig therapiert wurde ihre Krankheit nach der Diagnose mit 20 Jahren nicht. „Borderline ist etwas, das will niemand haben – und niemand wahrhaben.“Also lebte sie weiter mit der Achterbahnfahrt der Gefühle – auch nach einem dritten Selbstmordversuch. „Nach der Geburt meiner ersten konnte ich mit den Gefühlen nicht umgehen.“Wieder suchte sie den Ausweg in Tabletten, wieder überlebte sie und bekam erstmals passende Unterstützung: „Ich hatte engen Kontakt zu einer psychiatrischen Einrichtung und konnte dort immer kurzfristig vorbeikommen, wenn ich mir nicht mehr zu helfen wusste – wenn nur noch die Tabletten mein Ausweg gewesen wären.“Mehrmals habe sie das Angebot in Anspruch genommen und so die folnahme genden Jahre überlebt, zwei weitere Kinder bekommen, die Trennung von ihrem Mann und die Prügelattacken ihres anderen Partners überstanden. „Es war ein ewiger, dunkler Kreislauf – aus dem wäre ich nie rausgekommen.“Bis sie schließlich vor zwei Jahren ihrem jetzigen Partner bei einem Motorrad-Treffen begegnete. „Ich habe ihn getroffen und gleich gesagt: ,Ich habe drei Kinder und ich bin krank.‘“Dass der Mann damals nicht auf dem AbTochter satz kehrtgemacht hat, bringt F. heute noch zum Lächeln. Der neue Mann an ihrer Seite habe sie unterstützt, ihr Halt gegeben und sich mit Borderline auseinandergesetzt. Letzteres sei der wichtigste Teil, um mit Erkrankten umgehen zu können, sagt F., die heute ein recht gesundes Leben führt. „Viele trauen sich nicht, mit mir zu sprechen. Viele haben Angst vor der Irren.“
Psychische Krankheiten seien noch immer ein Tabuthema – gemerkt hat F. das etwa bei einem Gesundheitstag in der Glacis-Galerie. Dort wollte sie ihre Selbsthilfegruppe Bordis vorstellen, die sich zweimal im Monat in Ulm trifft. Die Resonanz sei schwindend gering gewesen. Dabei glaubt F., dass mehr als sechs Prozent der Deutschen Borderline in sich tragen. Das merke sie auch an den Mails, die wöchentlich bei ihr eingehen: „Eltern, Geschwister, Bekannte oder Verwandte schreiben uns, weil sie einen Menschen in ihrer Umgebung haben, der genau die Auffälligkeiten hat.“Bis es allerdings zur Diagnose kommt, sei es ein langer Weg – ähnlich ihrem.
Ihr persönlicher Ferrari mit Kinderlenkung rast heute nicht mehr wild durch die Gegend, sondern folgt einer immer gleichen Spur. Nur ab und an weiche sie davon ab – das kann ganz unvermittelt passieren, beispielsweise, wenn sie allein zu Hause sitzt. Dann kehren bei der 40-Jährigen die Erlebnisse aus der Kindheit zurück: „Wenn mein Freund das Haus verlässt und die Tür hinter sich schließt, bekomme ich Angstzustände.“Das Gefühl, verlassen zu werden, sei für die Frau das Schlimmste. Doch daran arbeite sie gerade. „Ich habe mir ein neues Hobby gesucht: Ich nähe jetzt.“Es gebe ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, wenn Bekannte sie um Hilfe bitten, sagt die Mutter, die seit der Diagnose Borderline einen Schwerbehindertenausweis hat und nicht mehr arbeiten kann. Nun fühlt sie sich auch bereit, Ratschläge zur Krankheit zu geben – damit auch andere ihren Ferrari steuern lernen.
Die Selbsthilfegruppe Bordis in Ulm ist unter der Mailadresse: grenz gaenger@selbsthilfegruppe bordis ulm.de erreichbar. Internet: www.selbst hilfegruppe borderline ulm.de