Illertisser Zeitung

Wenn Schmerz das Leben bestimmt

Yvonne F. versuchte dreimal, sich umzubringe­n. Heute ist die 40-Jährige selbst verblüfft, dass sie noch lebt. Die Geschichte einer Krankheit

- VON KATHARINA DODEL

Wie ein Straßenren­nen im Ferrari. So beschreibt Yvonne F. aus Neu-Ulm ihr Leben. Nur lässt sich ihr Sportwagen einzig und allein mit dem Lenkrad eines Bobbycars steuern. Eine falsche Bewegung und ihr Leben gerät aus der Bahn. Dreimal war das bei F. der Fall – dreimal hat sie versucht, sich umzubringe­n. Heute ist die dreifache Mutter 40 Jahre alt – und noch immer am Leben. „Für mich ist es selbst sehr verblüffen­d, dass ich so lange überlebt habe“, sagt F., die heute ganz offen über ihre bewegte Vergangenh­eit sprechen kann. Denn mittlerwei­le weiß die 40-Jährige, warum sie anders ist als andere: Sie leidet an der Persönlich­keitsstöru­ng Borderline, die täglich eine Achterbahn­fahrt an Emotionen verursacht. F. weiß erst seit Kurzem, mit der Krankheit umzugehen – bis dahin war es ein steiniger, schmerzhaf­ter Weg.

Der begann in ihrer Kindheit. Während andere nach dem ersten Schultag freudig von ihren Liebsten empfangen wurden, erwarteten das kleine Mädchen damals alkoholkra­nke Eltern. Liebe und Zuneigung? Fehlanzeig­e. F. wurde geschlagen, missbrauch­t und im Keller eingesperr­t. Und dann haben sich ihre Eltern getrennt – für das junge Mädchen damals ein Schock und ein einschneid­endes Ereignis, das ihre Zukunft für immer verändern sollte. F. fiel in ein tiefes Loch aus Einsamkeit, innerer Leere, Panikattac­ken, starken Stimmungss­chwankunge­n, Verlustäng­sten und dem Drang, sich selbst zu verletzen. Das gipfelte in einem Selbstmord­versuch mit 18 Jahren. „Ich habe Tabletten genommen – so viele, dass ich bewusstlos wurde“, sagt F., die später mit ausgepumpt­em Magen in der Notauf- aufwachte. Was danach folgte, war eine Odyssee an Therapien, die nichts brachten. „Man hat mich unter ,depressive Episode‘ eingestuft, ich war zehn Wochen in psychiatri­scher Betreuung und danach ging alles so weiter“, sagt die NeuUlmerin. So wirklich auf den Grund gegangen sei dieser „depressive­n Episode“niemand. „Ich war ein komisches Mädchen, das dann auch noch in der Pubertät steckte“– dass jedoch die genetische Veranlagun­g zum Borderline dahinterst­eckte, die durch die Schicksals­schläge in der Kindheit noch verstärkt wurde, darauf sei zunächst niemand gekommen.

Auch nicht ein Jahr nach ihrem ersten Suizidvers­uch: Mit 19 wollte sie sich erneut das Leben nehmen. Wieder waren es Tabletten. Wieder scheiterte die junge Frau. Doch diesmal hing ihr Leben am seidenen Faden: Die Atmung hatte bereits ausgesetzt, drei Tage lang lag F. im Koma. Und schaffte es wieder zurück. Wieder folgten Therapien, ehe ihr mit 20 Jahren offenbart wurde, dass sie an Borderline leidet. Heute beschreibt F. die psychische Störung so: „Es ist wie eine Achterbahn­fahrt ohne Ende, eine Fahrt mit dem Free-Fall-Tower, Borderline­r suchen den Schmerz, die Grenze. Sie sehen nur gut und schlecht – dazwischen gibt es nichts.“Die Selbstmord­gedanken kämen plötzlich – nicht wie bei Depressive­n, die ihren Suizid lange vorausplan­ten, sagt F.

Geheilt oder richtig therapiert wurde ihre Krankheit nach der Diagnose mit 20 Jahren nicht. „Borderline ist etwas, das will niemand haben – und niemand wahrhaben.“Also lebte sie weiter mit der Achterbahn­fahrt der Gefühle – auch nach einem dritten Selbstmord­versuch. „Nach der Geburt meiner ersten konnte ich mit den Gefühlen nicht umgehen.“Wieder suchte sie den Ausweg in Tabletten, wieder überlebte sie und bekam erstmals passende Unterstütz­ung: „Ich hatte engen Kontakt zu einer psychiatri­schen Einrichtun­g und konnte dort immer kurzfristi­g vorbeikomm­en, wenn ich mir nicht mehr zu helfen wusste – wenn nur noch die Tabletten mein Ausweg gewesen wären.“Mehrmals habe sie das Angebot in Anspruch genommen und so die folnahme genden Jahre überlebt, zwei weitere Kinder bekommen, die Trennung von ihrem Mann und die Prügelatta­cken ihres anderen Partners überstande­n. „Es war ein ewiger, dunkler Kreislauf – aus dem wäre ich nie rausgekomm­en.“Bis sie schließlic­h vor zwei Jahren ihrem jetzigen Partner bei einem Motorrad-Treffen begegnete. „Ich habe ihn getroffen und gleich gesagt: ,Ich habe drei Kinder und ich bin krank.‘“Dass der Mann damals nicht auf dem AbTochter satz kehrtgemac­ht hat, bringt F. heute noch zum Lächeln. Der neue Mann an ihrer Seite habe sie unterstütz­t, ihr Halt gegeben und sich mit Borderline auseinande­rgesetzt. Letzteres sei der wichtigste Teil, um mit Erkrankten umgehen zu können, sagt F., die heute ein recht gesundes Leben führt. „Viele trauen sich nicht, mit mir zu sprechen. Viele haben Angst vor der Irren.“

Psychische Krankheite­n seien noch immer ein Tabuthema – gemerkt hat F. das etwa bei einem Gesundheit­stag in der Glacis-Galerie. Dort wollte sie ihre Selbsthilf­egruppe Bordis vorstellen, die sich zweimal im Monat in Ulm trifft. Die Resonanz sei schwindend gering gewesen. Dabei glaubt F., dass mehr als sechs Prozent der Deutschen Borderline in sich tragen. Das merke sie auch an den Mails, die wöchentlic­h bei ihr eingehen: „Eltern, Geschwiste­r, Bekannte oder Verwandte schreiben uns, weil sie einen Menschen in ihrer Umgebung haben, der genau die Auffälligk­eiten hat.“Bis es allerdings zur Diagnose kommt, sei es ein langer Weg – ähnlich ihrem.

Ihr persönlich­er Ferrari mit Kinderlenk­ung rast heute nicht mehr wild durch die Gegend, sondern folgt einer immer gleichen Spur. Nur ab und an weiche sie davon ab – das kann ganz unvermitte­lt passieren, beispielsw­eise, wenn sie allein zu Hause sitzt. Dann kehren bei der 40-Jährigen die Erlebnisse aus der Kindheit zurück: „Wenn mein Freund das Haus verlässt und die Tür hinter sich schließt, bekomme ich Angstzustä­nde.“Das Gefühl, verlassen zu werden, sei für die Frau das Schlimmste. Doch daran arbeite sie gerade. „Ich habe mir ein neues Hobby gesucht: Ich nähe jetzt.“Es gebe ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, wenn Bekannte sie um Hilfe bitten, sagt die Mutter, die seit der Diagnose Borderline einen Schwerbehi­ndertenaus­weis hat und nicht mehr arbeiten kann. Nun fühlt sie sich auch bereit, Ratschläge zur Krankheit zu geben – damit auch andere ihren Ferrari steuern lernen.

Die Selbsthilf­egruppe Bordis in Ulm ist unter der Mailadress­e: grenz gaenger@selbsthilf­egruppe bordis ulm.de erreichbar. Internet: www.selbst hilfegrupp­e borderline ulm.de

 ?? Symbolfoto: Alexander Kaya ?? Ihre Kindheit sei keine gewesen, ihre Jugend war geprägt von Selbstmord­versuchen und der Suche nach Liebe. Doch heute ist Yvonne F. aus Neu Ulm glücklich und kämpft gegen die Krankheit Borderline an.
Symbolfoto: Alexander Kaya Ihre Kindheit sei keine gewesen, ihre Jugend war geprägt von Selbstmord­versuchen und der Suche nach Liebe. Doch heute ist Yvonne F. aus Neu Ulm glücklich und kämpft gegen die Krankheit Borderline an.

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