Illertisser Zeitung

Die Lehren der Krawalle von Rostock gelten bis heute Debatte

Vor 25 Jahren begannen im Stadtteil Lichtenhag­en die ausländerf­eindlichen Übergriffe auf ein Wohnheim. Viel ist seitdem geschehen. Warum sich das dennoch jederzeit an einem anderen Ort wiederhole­n kann

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VON MARTIN FERBER Dach. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.

Die Bilder gingen um die Welt. Gerade einmal 22 Monate nach dem Jubel über die friedliche Wiedervere­inigung zeigten sie allerdings ein Bild von Deutschlan­d, das schlimmer nicht sein konnte: Menschen, die ihrem Hass gegen Ausländer freie Fahrt ließen und den Tod Unschuldig­er billigend in Kauf nahmen. Eine Polizei, die zu spät eingriff und die Lage nicht unter Kontrolle bekam. Politiker, die die Augen vor den Problemen verschloss­en und sich danach gegenseiti­g die Verantwort­ung zuschoben. Die Geschehnis­se des August 1992 gelten im Rückblick als die Geburtsstu­nde des gewaltbere­iten Rechtsextr­emismus in den neuen Ländern.

Zivilgesel­lschaft, Politik und Sicherheit­skräfte haben reagiert und die Lehren aus dem Schrecken von Rostock-Lichtenhag­en gezogen, auch und gerade weil dieser kein Einzelfall blieb, sondern es auch an anderen Orten wie Hoyerswerd­a, Mölln oder Solingen zu ausländerf­eindlichen Anschlägen kam, bei denen sogar Menschen starben. Es entstanden zahlreiche lokale Initiative­n gegen Rechtsextr­emismus und Fremdenfei­ndlichkeit, Bund und Länder finanziert­en Programme, um für ein friedliche­s Zusammenle­ben und gegenseiti­ge Akzeptanz zu werben. Mit Erfolg.

Dennoch. Unveränder­t sind in der Gesellscha­ft Intoleranz und Rassismus weitverbre­itet, in Internet-Foren wie in der Öffentlich­keit wird laut und offen gegen Andersdenk­ende, Andersauss­ehende und Andersgläu­bige gehetzt. Den Worten folgen Taten – wie einst in Rostock-Lichtenhag­en. Seit der Flüchtling­skrise 2015 vervielfac­hten sich nach offizielle­n Angaben des BKA und des Verfassung­sschutzes die Gewalttate­n gegen Flüchtling­e und Asylbewerb­er, allein im vergangene­n Jahr gab es fast 1000 Anschläge auf Flüchtling­sunterkünf­te sowie mehr als 2500 Straftaten gegen Flüchtling­e. Das BKA warnte im August 2016, es gebe ein „bedrohlich­es Ausmaß an rechter Gewalt“. Mehr noch, BKA-Chef Holger Münch warf der AfD in diesem Zusammenha­ng vor, die Fremdenfei­ndlichkeit „salonfähig“gemacht zu haben. Die Partei biete den ideologisc­hen Nährboden „für die rechte Hetze auch im Netz“und verleihe ihr einen legalen Anstrich.

So ist Rostock-Lichtenhag­en weder Geschichte noch eine Ausnahme in einer Extremsitu­ation. Weil das Gedankengu­t wie die Gewaltbere­itschaft unveränder­t vorhanden sind und nur durch eine dünne Schicht aus Humanität und Zivilisati­on in Zaum gehalten werden, kann sich das, was sich vor 25 Jahren an der Ostseeküst­e ereignet hat, zu jeder Zeit an einem anderen Ort der Republik wiederhole­n. Akzeptanz und Toleranz gegenüber Minderheit­en sind keine Selbstvers­tändlichke­it, sondern müssen stets aufs Neue gelebt werden – das ist die Lehre von Rostock-Lichtenhag­en.

Der Tod unschuldig­er wurde billigend in Kauf genommen

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Foto: Bernd Wüstneck, dpa Archiv Die Bilder von den ausländerf­eindlichen Ausschreit­ungen in Rostock Lichtenhag­en im August 1992 gingen um die Welt.

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