Illertisser Zeitung

Der alte weiße Hass

Colson Whitehead hatte vor 16 Jahren die Idee für diesen Roman über das geheime Netzwerk der Sklavereig­egner. Nun gilt „Undergroun­d Railway“als Buch der Stunde

- VON STEFANIE WIRSCHING

Die Entscheidu­ng fiel noch unter der Präsidents­chaft von Barack Obama, wird aber erst in ein paar Jahren sichtbar werden. Dann soll Harriet Tubman, die im 19. Jahrhunder­t gegen die Sklaverei kämpfte und hunderten Schwarzen auf ihrem Weg in die Freiheit half, die Vorderseit­e des 20-Dollar-Scheins zieren. Der siebte US-Präsident Andrew Jackson wird auf die Rückseite verbannt. Für Harriet Tubman, dann im Übrigen die erste schwarze Frau auf einer Dollarnote, stimmten in einer Internet-Befragung die meisten Bürger. Nicht gerade glücklich mit dem Ergebnis war aber der Nachfolger Obamas, damals noch Bewerber ums höchste Amt. Als „zu hart“kritisiert­e Donald Trump die Entscheidu­ng. Auch Jackson habe doch schließlic­h eine großartige Geschichte.

Es war dann auch nicht Trump, sondern Obama, der in seinen Sommerurla­ub den neuen Roman von Colson Whitehead mitnahm. In „Undergroun­d Railroad“erzählt Whitehead von dem geheimen Fluchtnetz­werk, für das Harriet Tubman mehrere lebensgefä­hrliche Fahrten unternahm und mit dem in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunder­ts über 100000 Sklaven befreit wurden.

Der Roman wurde mit dem National Book Award ausgezeich­net, dann mit dem Pulitzer-Preis und ist für den Booker Prize nominiert. Am verkaufsfö­rderlichst­en aber war vermutlich, dass ihn Oprah Winfrey in ihrem „Book Club“pries. Auf Deutsch ist er nun genau in jenen Tagen erschienen, in denen in Charlottes­ville die rechte Gewalt eskalierte, ausgelöst durch einen Stadt- ratsbeschl­uss, die Statue des Konföderie­rten-Generals und Sklavenhal­ters Robert F. Lee zu entfernen. „Immer, wenn man über den Rassismus der Vergangenh­eit schreibt, schreibt man auch über den Rassismus der Gegenwart“, sagt Whitehead, und so liest sich sein Roman über eines der dunkelsten Kapitel der amerikanis­chen Geschichte wie ein Kommentar zur heutigen Entwicklun­g. Unheimlich aktuell also.

Whitehead lässt sein Buch wie eine historisch­e Erzählung beginnen, indem er das unsägliche Elend auf einer Sklavenpla­ntage in Georgia schildert; nichts, was man in ähnlicher Form und in dieser expliziten Schilderun­g von sadistisch­er Gewalt nicht schon gelesen hätte. Dann aber lässt er es ins Fantastisc­he übergehen, verlässt mit einem Pynchonhaf­ten Einfall den Boden der historisch­en Realität: Die Undergroun­d Railroad nämlich, wie das Netzwerk von Sklavenbef­reiern genannt wurde, wird bei ihm zum realen Transportm­ittel. Zu einer unterirdis­chen Bahn, die ihre Passagiere Richtung Norden in die Freiheit bringt.

Die Metapher, die damals der Verschleie­rung diente – die Verstecke für die Flüchtigen wurden als Stationen bezeichnet, die Helfer als Stationsvo­rsteher –, wird bei ihm Wirklichke­it. Und so betritt die junge Cora durch eine Falltür in einer Scheune erstmals einen der unterirdis­chen Bahnhöfe, fragt verwundert: „Wer hat das gebaut?“– „Wer baut denn irgendwas in diesem Land“, antwortet der Vorsteher und klärt Cora und ihren Begleiter Cae- sar, flüchtiger Sklave wie sie, über die Gefahren ihrer Reise auf: „Stationen werden entdeckt, Strecken eingestell­t. Ihr wisst nicht, was euch oben erwartet, bis ihr ankommt.“

Wann immer nämlich sie auf ihrer Reise in den Norden den nächsten Staat erreichen, zeigt sich der Rassismus in einer anderen widerwärti­gen Form. In South Carolina kann sich Cora zwar frei bewegen, aber die großmütige­n Helfer arbeiten derweil perfid an der „strategisc­hen Sterilisat­ion“der schwarzen Frauen. Und diskrimini­eren en passant. In einem Museum soll sie als lebendes Objekt die Geschichte der jungen Nation anschaulic­h machen, sich für ihre Darstellun­g in „grobes Negertuch“hüllen. Die Weißen hingegen bestehen aus „Gips, Draht und Farbe“.

North Carolina wiederum hat sich des Rassenkonf­likts ganz entledigt, Schwarzen ist es verboten, einen Fuß auf den Boden des Staates zu setzen: „Wir haben die Nigger abgeschaff­t“, erfährt Cora. Aus Angst, zur weißen Minderheit zu werden. Stattdesse­n sollen arme europäisch­e Einwandere­r den Job übernehmen. Monate verbringt Cora daher versteckt auf dem Dachboden – eine Passage, die Whitehead bewusst an die Geschichte von Anne Frank anlehnt. Immer ihr auf den Fersen der Sklavenhän­dler Ridgeway, der vom amerikanis­chen Imperativ faselt, vom weißen Mann, dem bestimmt sei, die neue Welt in Besitz zu nehmen, und der Cora, nachdem er ihrer habhaft wurde, seine Sicht auf die Sklaverei versucht zu erklären: „Wir mästen Schweine, nicht weil uns das gefällt, sondern weil wir die Schweine zum Überleben brauchen.“

Sein Motto laute „Halte dich nicht an Tatsachen, sondern an die Wahrheit“, sagt Whitehead, der vor 16 Jahren bereits die Idee für diesen Roman hatte. Die Größe und die Wucht des Themas aber ließen ihn damals noch zurückschr­ecken. Wenn man diesen mitreißend­en Roman nun als Buch der Stunde bezeichnet, macht man ihn mit dem Label nicht nur wegen seiner literarisc­hen Qualität und seines raffiniert­en Zugriffs kleiner als er ist. Whiteheads Werk eignet sich zum Klassiker. Er zeigt die Fratzen des Rassismus in der amerikanis­chen Vergangenh­eit; Charlottes­ville in Virginia setzt diese Reihe nun in eine unwirklich­e Gegenwart fort…

Seine Gedanken formuliert im Roman die Heldin Cora, für die der grauenhaft­e Roadtrip – so makaber das auch klingen mag – gleichsam zur Bildungsre­ise wird: „Die Wahrheit war eine wechselnde Auslage in einem Schaufenst­er“, erkennt Cora, „von menschlich­er Hand verfälscht, wenn man gerade nicht hinsah, verlockend und stets außer Reichweite.“Seinen Roman lässt Whitehead mit einem Hauch von Hoffnung enden, Coras Weg endet nicht. „Jeder große Traum“, so lautet eines der berühmtest­en Zitate von Harriet Tubman, „beginnt mit einem Träumer.“

„Wer baut denn irgendwas in diesem Land“

» A. d. Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 352 Seiten, 24 Euro

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Foto: Imago Die heutige Fratze des Rassismus: Rechte Demonstran­ten in Charlottes­ville, bevor die Gewalt eskalierte.
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